Liebe Leserinnen und Leser
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wird zunehmend kritisiert, auch in der Schweiz. Es erstaunt daher nicht, dass sich gleich mehrere Beiträge in dieser Ausgabe der Richterzeitung mit ihm beschäftigen. Helen Keller und Amrei Müller befassen sich mit der Frage, welche Rolle dem Grundsatz der Subsidiarität zukommt und wie dieser Grundsatz im Kontext zur Primärverantwortung der Staaten zu verstehen ist. Sie analysieren die Rechtsprechung des EGMR und geben Hinweise für die Schweizer Justiz.
Eine kontroverse Position zum EGMR nehmen Brigitte Pfiffner und Susanne Bollinger einerseits, Jagland Thorbjørn anderseits ein. Während Erstere eine ausufernde Interpretation der Menschenrechte durch den Gerichtshof beklagen, widerspricht Letzterer dieser These.
Einem anderen sehr aktuellen Thema, der Verfassungsgerichtsbarkeit, ist der Beitrag von Andreas Auer und Alain Griffel gewidmet. Sie zeigen auf, welche Bedeutung Art. 190 BV heute noch zukommt und welche Folgen dessen Aufhebung haben würde. Gleichsam ergänzend dazu legt Claude Rouiller dar, weshalb die Angst vor einem «Richterstaat» wohl eher irrational ist.
Die Mediation, ein seit einiger Zeit vermehrt diskutiertes Element der Streitbewältigung, wird in dieser Ausgabe ebenfalls kontrovers diskutiert. Jean A. Mirimanoff stellt den Zugang zur Mediation in zivilrechtlichen und handelsrechtlichen Angelegenheiten dar, währenddem Georg Steinberg das Zusammenspiel von Mediation und richterlicher Gewalt kritisch hinterfragt.
Aus aktuellem Anlass gleich mehrfach ein Thema ist – insbesondere bei unseren Nachlesen – die Frage der Abwahl bzw. Nichtwiederwahl von Richtern. Während teilweise eine Änderung von Verfahren und Zuständigkeiten gefordert wird, warnen andere vor Schnellschüssen.
Mit dem Wahlverfahren im Kanton Graubünden befasst sich Urs Meisser. Er berichtet über die Behandlung eines Vorstosses, wonach auf die öffentliche Ausschreibung von Richterstellen zu verzichten sei, da diese – zu Unrecht – ein unpolitisches und offenes Verfahren suggeriere.
Zwei Beiträge stammen vom Richtertag 2011. Lorenz Meyer und Paul Tschümperlin beschreiben Vor- und Nachteile der automatisierten Bestimmung des Spruchkörpers und zeigen auf, in welche Richtung die Entwicklung am Bundesgericht geht. Revital Ludewig befasst sich mit dem Auftreten als Richterin oder Richter im Prozess und gibt Antworten auf die Frage, wieviel Nähe oder Distanz zu den Parteien erforderlich oder wünschbar ist.
Einen anderen Aspekt der richterlichen Tätigkeit beleuchtet der Beitrag von Thomas Stadelmann: Wie soll der Spruchkörper abstimmen, wenn mehrere gleichrangige Anträge der Richterinnen und Richter zur Diskussion stehen?
Einen Blick in einen anderen Rechtskreis erlaubt Marlon Alberto Weichert. Er berichtet über die brasilianische Staatsanwaltschaft und beschäftigt sich insbesondere mit der Frage ihrer Unabhängigkeit.
Die Kolumne aus dem Vorstand der SVR-ASM stammt diesmal von Dieter Freiburghaus. Er nimmt sich dem Problem an, dass aus ökonomischen Überlegungen das System der Einzelrichter immer mehr ausgeweitet wird und fragt, ob das Kollegialgericht zu Recht ein Auslaufmodell darstellt.
Abgerundet wird die aktuelle Ausgabe wie immer durch Neuigkeiten und Personalia aus den Kantonen und dem Ausland, Rezensionen und der aktuellen Bibliographie.
Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre.
Emanuela Epiney-Colombo, Stephan Gass, Regina Kiener, Hans-Jakob Mosimann, Thomas Stadelmann, Pierre Zappelli