Liebe Leserinnen und Leser
Die vorliegende Ausgabe von «Justice – Justiz – Giustizia» befasst sich schwerpunktmässig mit dem Themenblock Selbstverwaltung – Aufsicht – Oberaufsicht. Sie enthält eine Serie von Beiträgen zu den verschiedenen Aspekten dieses Themenblocks aus dem Blickwinkel von beaufsichtigten unterinstanzlichen Gerichten, von beaufsichtigenden oberinstanzlichen Gerichten und von oberinstanzlichen Gerichten als keiner Aufsicht, sondern lediglich einer Oberaufsicht unterstehend. Auch die Sicht der Oberaufsichtsbehörden – einerseits des Parlamentes bzw. der zuständigen Kommission – andererseits eines Justizrates – wird aufgezeigt.
Nachgegangen wird Fragen wie: braucht es die Aufsicht? Was kann sie bewirken und wo wären Änderungen notwendig? Gäbe es andere, evtl. geeignetere Modelle? Welches ist die Rolle der Oberaufsicht? Bewährt sie sich? Was ist die Folge, wenn ein Höchstgericht „bloss“ der Oberaufsicht untersteht, welche Auswirkungen hat dies im Hinblick auf die Selbstverwaltung?
Spannend erscheint uns dabei besonders, dass wir die konträre Sicht zweier direkt Beteiligter an einem Aufsichtsverhältnis zeigen können, einerseits des Bundesgerichts, andererseits des Bundesverwaltungsgerichts. Ergänzt wird dieser doppelte Blick durch den Beitrag von Etienne Poltier, welcher sich mit Aspekten der Selbstverwaltung durch das Bundesgericht befasst. Es obliegt dem Leser, sich selber eine Meinung zu bilden.
Der Blick auf den Themenkreis Selbstverwaltung – Aufsicht – Oberaufsicht erfolgt diesmal hauptsächlich aus Schweizer Sicht und wir haben darauf verzichtet, aufzeigen zu lassen, wie in anderen Ländern die Problematik behandelt wird. Das bedeutet nicht, dass es sich um ein international irrelevantes Thema handelt. Speziell erwähnt werden soll hier – gerade auch mit Blick auf den erwähnten Diskurs zwischen Bundesgericht und Bundesverwaltungsgericht – lediglich, dass auch die Venice Commission im Report on the Independence of the Judicial System, Part I: The Independence of Judges (adopted 12-13 March 2010) die Frage der Aufsicht aufgreift, dies unter dem Aspekt der Richterlichen Unabhängigkeit. Sie führt aus: “The issue of internal independence within the judiciary has received less attention in international texts than the issue of external independence. It seems, however, no less important. In several constitutions it is stated that "judges are subject only to the law". This principle protects judges first of all against undue external influence. It is, however, also applicable within the judiciary. A hierarchical organisation of the judiciary in the sense of a subordination of the judges to the court presidents or to higher instances in their judicial decision making activity would be a clear violation of this principle.” (Rz.68)
Die Venice Commission verweist auf den Beirat der Europäischen Richter (CCJE), der festhielt: „The fundamental point is that a judge is in the performance of his functions no one’s employees; he or she is holder of a State office. He or she is thus servant of, and answerable only to, the law. It is axiomatic that a judge deciding a case does not act on any order or instruction of a third party inside or outside the judiciary.” (Rz.69)
Auch wenn dadurch eine Aufsicht der oberen Gerichte über die unteren noch nicht per se völlig ausgeschlossen scheint – sofern sie sich in klaren Grenzen hält – , sind doch die Problempunkte deutlich erkennbar: wann beginnt die – klarerweise unzulässige – Gefahr der Einflusswirkung auf die Rechtsprechung, und bei welchen Aufsichtstätigkeiten und -massnahmen ist eine Einflussnahme auszuschliessen? Interessant daher, wenn die Venice Commission u.a. konstatiert: “The Venice Commission has always upheld the principle of the independence of each individual judge: ‘Lastly, granting the Supreme Court the power to supervise the activities of the general courts […] would seem to be contrary to the principle of the independence of such general courts. While the Supreme Court must have the authority to set aside, or to modify, the judgments of lower courts, it should not supervise them.’ (CDL-INF(1997)6 at 6).” (Rz. 71)
Spezielle Fragen der Selbstverwaltung – einerseits die zeitgerechte Behandlung der Fälle, andererseits der Sicherstellung unvoreingenommener und unabhängiger Spruchkörper – werden in den Beiträgen von Giacomo Oberto bzw. von Marco Zardi aufgegriffen. Giacomo Oberto berichtet dabei aus einer internationalen Perspektive, Marco Zardi konzentriert sich auf das neue Bundespatentgericht. Insbesondere der Beitrag von Zardi lässt aufhorchen: es fragt sich u.a., ob die Ausstandsregelungen, welche sich das Bundespatentgericht in einem Reglement gegeben hat, effektiv den internationalen Standards genügen und den verfassungsmässigen Anspruch auf einen unparteiischen und unvoreingenommenen Richter wahren. Interessant ist auch sein Hinweis auf die Möglichkeit der „Dissenting Opinion“. Ist eine solche im schweizerischen System der kollegialen Entscheidfindung – in welchem im Gegensatz zum angelsächsischen System nicht die Stimme des einzelnen Richters relevant ist, sondern der Spruch des Kollegiums als Ganzes – tatsächlich möglich, ohne dass hierfür eine explizite gesetzliche Grundlage besteht (vgl. auch Art. 238 ZPO zum erforderlichen Inhalt des Gerichtsurteils)? Überraschend schliesslich auch seine Ausführungen, wonach den nicht vollamtlichen Richtern am Bundespatentgericht offenbar nicht in alle Angelegenheiten des Gerichts Einblick gewährt wird. Dies alles provoziert Grundsatzüberlegungen zur richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, und wenn Zardi das System damit rechtfertigt, dass andernfalls nicht die erforderliche Anzahl von fachkompetenten Richtern gefunden werden könnte, stellt sich unweigerlich die Frage, ob nicht allenfalls ein grundsätzlicher Systemfehler vorliegt.
Auch die Kolumne aus dem Vorstand der Schweizerischen Richtervereinigung befasst sich mit dem Schwerpunktthema: Myriam Grütter beschäftigt sich mit der Frage der Leitungskompetenz in der Justiz.
Wie immer enthält die Richterzeitung auch diesmal aktuelle Nachrichten über Personalia, Nachlesen aus der Tagespresse und Hinweise auf neue Literatur.
Im Zuge der Vereinheitlichung des Publikationsprozesses bei Weblaw wurde die technische Umgebung von «Justice - Justiz - Giustizia» umgestellt. Gleichzeitig haben wir erste Anpassungen am Layout vorgenommen.