Liebe Leserinnen und Leser

Sind Richter und Richterinnen Vertreter der politischen Parteien? Können sich die Gerichte unter Berufung auf die Unabhängigkeit der Rechtsprechung der Überprüfung ihrer Leistungserbringung entziehen? Niccolò Raselli befasst sich mit zwei in der Rechtsprechung kaum diskutierten, in der Praxis aber bedeutsamen Aspekten der richterlichen Unabhängigkeit. Er kommt unter anderem zum Schluss, dass einzig die institutionelle Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit vor direkter und indirekter Vereinnahmung schützt - und diese lässt sich wirksam herstellen, indem die periodische Wiederwahl von Richterinnen und Richter durch eine einmalige Ernennung auf unbestimmte Zeit (mit Altersbeschränkung) ersetzt wird.

Spartaco Chiesa fragt in seinem Beitrag «L’elezione dei magistrati giudiziari nel Canton Ticino» nach den Kriterien, die bei der Wahl von Richterinnen und Richtern zu beachten sind und wie die für das Amt am besten geeignete Person ausgewählt werden kann. Der Autor zeigt am Beispiel des Kantons Tessin die Schwierigkeiten auf, die entstehen, will man den Grundsatz der Auswahl der besten Kandidaten durch unabhängige Experten verwirklichen und dem Prinzip des sozialen und politischen Pluralismus innerhalb der Justiz nachkommen.

Marc Bühlmann und Ruth Kunz stellen eine sozialwissenschaftliche Untersuchung über das Vertrauen in die Justiz vor. Vertrauen ist eine entscheidende Grösse für die Legitimität der Justiz. Fairness und Unparteilichkeit / Unabhängigkeit sind wichtig, um bei den Bürgerinnen und Bürgern Vertrauen zu schaffen. Die Resultate eines quantitativen internationalen Vergleichs zeigen, dass die Justiz-Unabhängigkeit einen positiven Einfluss auf die Entwicklung von persönlichem Vertrauen hat. Dieses Vertrauen basiert allerdings nicht auf der verbrieften Unabhängigkeit der Justiz, sondern auf deren tatsächlicher Unabhängigkeit.

Marcel Alexander Niggli und Stefan Maeder setzen sich kritisch mit den Vorstellungen der Politik über die Justiz auseinander. Heute wird Strafrecht medial wie politisch als Mittel zur Lösung von gesellschaftlichen Problemen verstanden: Mehr Strafe bedeutet dann mehr Sicherheit. Dass diese Gleichung nicht aufgeht, ist eine kriminologische Binsenweisheit. Doch sie wird so nicht zur Kenntnis genommen. Das ist an sich nicht neu. Eine neue Dimension wird aber nach Meinung der Autoren dort aufgetan, wo Exekutive und Legislative die Strafjustiz als Gegner wahrnehmen und der Justiz vorwerfen, die Bemühungen um Sicherheit vorsätzlich zu torpedieren.

Duro Sessa , Richter am «Supreme Court of Croatia», berichtet von der Umsetzung der jüngsten Empfehlung des Europarats (CM/Rec (2010)12 on Judges: Independence, Efficiency and Responsibilities) in Kroatien. Diese Empfehlung umfasst die geltenden Standards einer unabhängigen Justiz und stellt eine Art «Check-List» für jedes europäische Land dar. Die neue Kroatische Verfassung, das Gesetz über die Gerichte und weitere Justizverfassungsgesetze folgen fast vollständig den in der Empfehlung des Europarats festgehaltenen Standards der richterlichen Unabhängigkeit. Diese neue Empfehlung des Ministerrats des Europarats und die ebenfalls neue «Magna Carta der Richter», erlassen vom Beirat der Europäischen Richter, werden im Kurzhinweis von Stephan Gass vorgestellt.

Philipp Egli und Thomas Gächter untersuchen die Problematik der Unabhängigkeit der Verwaltung. Sie befassen sich insbesondere mit der Frage der Unabhängigkeit der medizinischen Begutachtung im Invalidenversicherungsverfahren. Im Hinblick auf den Leitentscheid BGE 9C_243/2010 vom 28. Juni 2011 haben sich diesbezüglich einige neue, den Autoren zufolge grundsätzlich zu begrüssende Entwicklungen ergeben, die den EMRK- Standard insgesamt auch im invalidenversicherungsrechtlichen Verfahren umsetzen.

News aus dem In- und Ausland, Literaturrezensionen, das 18. Update der Bibliographie zum Richterrecht sowie Personalia runden diese Ausgabe der Richterzeitung ab.

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.

Emanuela Epiney-Colombo, Stephan Gass, Regina Kiener, Hans-Jakob Mosimann, Thomas Stadelmann, Pierre Zappelli

 

EDITORIAL
Editorial der Ausgabe 2011/3
Redaktionsteam / Equipe de rédaction / Redazione
Redaktionsteam / Equipe de rédaction / Redazione
Editorial de l'édition 2011/3
Redaktionsteam / Equipe de rédaction / Redazione
Redaktionsteam / Equipe de rédaction / Redazione
SCIENCE
Richterliche Unabhängigkeit
Niccolò Raselli
Niccolò Raselli
Der vorliegende Beitrag befasst sich mit zwei in der Rechtsprechung kaum diskutierten, in der Praxis aber bedeutsamen Aspekten aus dem Spektrum der richterlichen Unabhängigkeit. Zugespitzt lassen sie sich auf folgende Fragestellungen zurückführen: Sind Richter und Richterinnen Vertreter der politischen Parteien? Können sich die Gerichte unter Berufung auf die Unabhängigkeit der Rechtsprechung der Überprüfung ihrer Leistungserbringung entziehen?
L’elezione dei magistrati giudiziari nel Canton Ticino
Spartaco Chiesa
Spartaco Chiesa
Welches sind die Kriterien, die bei der Wahl von Richterinnen und Richtern zu beachten sind? Wie wählt man die für das Amt geeignetste Person aus? Sollen die persönliche und berufliche Fähigkeiten des Kandidaten im Vordergrund stehen oder sind auch andere Aspekte zu berücksichtigen, insbesondere der parteipolitische Proporz innerhalb eines Gerichts? Die Wahl der Richter durch politische Behörden, in der Schweiz traditionell, wirft viele Fragen betreffend die Beachtung der Richterlichen Unabhängigkeit auf. Mehrere Kantone haben Methoden für die Wahl von Richtern und Staatsanwälten eingeführt, welche die Auswahl der Kandidaten entpolitisieren und es erlauben sollten, Personen auszuwählen, die den hohen Ansprüchen des Richteramtes aufgrund ihrer menschlichen und beruflichen Fähigkeiten gerecht werden. Das Beispiel des Kantons Tessin zeigt die Schwierigkeiten, welchen dieser Grundsatz der Auswahl der besten Kandidaten durch unabhängigen Experten angesichts des Prinzips der sozialen und politischen Pluralismus innerhalb der Justiz begegnet.Quels sont les critères à suivre pour l’élection d’un magistrat de l’ordre judiciaire? Comment sélectionner la personne la plus apte pour la charge judiciaire à repourvoir? Faut-il privilégier les compétences personnelles et professionnelles des candidats ou faut-il tenir en considération aussi d’autres aspects, en particulier la répartition politique à l’intérieur d’une institution judiciaire ? L’élection des magistrats par l’autorité politique, traditionnelle en Suisse, pose de nombreuses questions au sujet du respect de l’indépendance des magistrats. Plusieurs Cantons ont mis en place des méthodes d’élection des magistrats qui devraient dépolitiser la sélection des candidats et permettre de choisir parmi eux une personne qui soit à la hauteur de la charge judiciaire à repourvoir par ses capacités humaines et professionnelles. L’exemple du Canton du Tessin montre les difficultés que rencontre le principe de la sélection de la meilleure candidature par des experts indépendants face au principe du pluralisme social et politique à l’intérieur des institutions judiciaires.
Vertrauen in die Justiz: Unabhängigkeit und Legitimität von Justizsystemen im Vergleich
Ruth Kunz
Ruth Kunz
Marc Bühlmann
Marc Bühlmann
Im Zentrum unserer sozialwissenschaftlichen Untersuchung, die hier kurz zusammengefasst wird, standen die bestimmenden Faktoren für das Vertrauen in die Justiz. Vertrauen ist eine entscheidende Grösse für die Legitimität der Justiz. Wir gehen davon aus, dass Fairness und Unparteilichkeit, also die Unabhängigkeit der Justiz wichtig seien, um bei den Bürgerinnen und Bürgern Vertrauen zu schaffen. Die Resultate eines quantitativen internationalen Vergleichs zeigen, dass die justiziale Unabhängigkeit einen positiven Einfluss auf die Entwicklung von persönlichem Vertrauen hat. Dieses Vertrauen basiert allerdings nicht auf der verbrieften Unabhängigkeit der Justiz, sondern auf deren tatsächlicher Unabhängigkeit.
Justiz in den Vorstellungen der Politik
Marcel Alexander Niggli
Marcel Alexander Niggli
Stefan Maeder
Stefan Maeder
Der Beitrag zeigt anhand von zwei Beispielen – der Vorlage zur «Harmonisierung der Strafrahmen» und der Entstehungsgeschichte des StBOG – auf, welche Fehlvorstellungen über Aufgabe und Funktionsweise von Justiz in Legislative und Exekutive herrschen. Gerade die politisch wie medial besonders gern gegeisselte Strafjustiz macht bei empirischer Betrachtung ihre Arbeit jedoch erfolgreich. Erschrecken muss der politische Umgang mit der Justiz, der ein Staatsverständnis offenbart, das die Strafjustiz eher als Ausführungsgehilfin denn als echte dritte Gewalt im Staat sehen will. In Wirklichkeit sieht man wieder, wie unvollkommen wir Menschen in der Abfassung von Paragraphen sind und wie wenig einmalige Formulierungen den tausendfach vielfältigen Gebilden des Lebens entsprechen.
Die Unabhängigkeit der medizinischen Begutachtung im Verfahren der Invalidenversicherung
Thomas Gächter
Thomas Gächter
Philipp Egli
Philipp Egli
Nachdem in der letzten Ausgabe der Richterzeitung die Unabhängigkeit der Gerichte im Zentrum stand, soll im Anschluss daran die verwandte Problematik der Unabhängigkeit der Verwaltung, insbesondere die eng damit verbundene Frage nach der Unabhängigkeit der medizinischen Begutachtung im Invalidenversicherungsverfahren, näher beleuchtet werden. Im Hinblick auf den Leitentscheid BGE 9C_243/2010 vom 28. Juni 2011 haben sich diesbezüglich einige neue, grundsätzlich zu begrüssende Entwicklungen ergeben, die den EMRK-Standard insgesamt auch im invalidenversicherungsrechtlichen Verfahren umsetzen.
FORUM
Traduction et interprétation, quelques notes à partir d’un arrêt récent du Tribunal fédéral
Davide Cerutti
Davide Cerutti
Un arrêt récent du Tribunal fédéral a évoqué le sujet de la traduction : la notion « incolpato » signifiait-elle « inculpé » ? Quels sont les enjeux liés à la traduction ? Nos lois, nous le savons, sont sensibles aux problèmes méthodologiques – voire épistémologiques – liés à la traduction. S’ajoutent les questions liées à l’interprétation. Cette brève contribution souhaite mettre en évidence ces sujets et indiquer la nouvelle voie que le Tribunal fédéral semble suivre en matière d’interprétation, en quittant le terrain des « méthodes ».
Recent Legislative Developments in Croatia in Strengthening the Independence of the Judiciary
Duro Sessa
Duro Sessa
Richterliche Erfahrung für Richter am EGMR
Juria
Juria
NEWS CH
GL: Sachgeschäfte der Landsgemeinde 2011
Peter Balmer
Peter Balmer
NEWS ABROAD
Die neue Empfehlung des Ministerrats des Europarats und die «Magna Carta der Richter» des Beirats der Europäischen Richter
Stephan Gass
Stephan Gass
LITERATURE
Bibliografie zum Richterrecht - Update 18
Juria
Juria
«Justice - Justiz - Giustizia» publiziert eine Übersicht über neu erschienene Monografien und Artikel in Fachzeitschriften und Festschriften, welche zu Themen rund um die Judikative erschienen sind.
Rezension: Martin Schubarth, Verfassungsgerichtsbarkeit
Hans-Jakob Mosimann
Hans-Jakob Mosimann
Rezension: Tobias D. Meyer, Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik
Hans-Jakob Mosimann
Hans-Jakob Mosimann
ASSOCIATIONS
6. Tag der Richterinnen und Richter am 11. November 2011 in Luzern
David Werner
David Werner
Fragen um die Prozesse bilden das Thema des 6. Tags der Richterinnen und Richter. Vier Fachvorträge beleuchten ausgewählte Probleme, die sich bei der Prozessleitung stellen, und ein Referat gewährt einen Einblick in die besonderen Herausforderungen bei Prozessen von internationaler Bedeutung.
PERSONALIA
Bundesanwalt Erwin Beyeler nicht wiedergewählt
Juria
Juria
Paolo Bernasconi: «Ein politischer Racheakt»
René Lenzin
René Lenzin
Der frühere Tessiner Staatsanwalt Paolo Bernasconi sagt, die Abwahl von Erwin Beyeler sei ein schwerer Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz.
AG: Hinschied von Oberrichter Arthur Müller
Nicole Payllier
Nicole Payllier
BE: Hanspeter Kiener ans Obergericht gewählt
Juria
Juria
Das Berner Kantonsparlament hat am Mittwoch den Juristen Hanspeter Kiener ans Obergericht gewählt.
GL: Wahlen ans Kantons- und Verwaltungsgericht
Peter Balmer
Peter Balmer
LU: Personelle Wechsel an den Gerichten
Vivian Fankhauser-Feitknecht
Vivian Fankhauser-Feitknecht