Liebe Leserin, lieber Leser
Im August 2019 wurde die Justizinitiative eingereicht, Ende des letzten Jahres haben sich die Rechtskommissionen von Nationalrat und Ständerat damit befasst und in diesen Tagen stehen die Initiative und ein allfälliger Gegenvorschlag in den Räten zur Diskussion. Dies ist für «Justice - Justiz - Giustizia» Grund und Anlass, Ihnen eine Schwerpunktausgabe zur Richterbestellung vorzulegen.
Wir bieten Ihnen eine breite Auswahl an Informationen und Diskussionsstoff zur Bestellung von Richterinnen und Richtern an. Über 25 Autorinnen und Autoren aus verschiedensten Bereichen haben sich mit Themen befasst, welche mit der Richterbestellung zusammenhängen. Teilweise geht es um Aspekte, welche bisher in der Schweiz nicht oder kaum diskutiert wurden, teilweise werden aktuelle Schlaglichter auf bekannte Fragen geworfen.
Eine kritische Würdigung der Vorschläge der Justizinitiative und der dafür und dagegen erhobenen Argumente legen Mark Livschitz im Beitrag «Die Justizinitiative in den Augen von Bundesbern» und Georg Grünstäudl im Beitrag «Glück gehabt? – Zur Auswahl der Bundesrichter durch Los» vor. Peter Uebersax entwickelt im Beitrag «Wahl und Amtsenthebung von Richterinnen und Richtern des Bundes» einen Modellvorschlag zur Entpolitisierung der Wahlen an die Gerichte des Bundes unter grundsätzlicher Beibehaltung der Zuständigkeit der Bundesversammlung in Verbindung mit der rechtsstaatlichen Regelung eines Amtsenthebungsverfahrens. Auch Adrian Vatter unterbreitet im Beitrag «Parteilose statt geloste Richterinnen und Richter», in dem er aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive das geltende Verfahren und die heutige Praxis der Richterbestellung in der Schweiz analysiert, Vorschläge zu einer Anpassung des heutigen Systems. Maya Ackermann verortet in «Die Justiz-Initiative als Form einer Stealth Democracy?» die Justiz-Initiative innerhalb der elitistischen Demokratietheorie und im Kontext eines zeitgenössischen Konzepts der so genannten «Stealth Democracy».
Hubertus Buchstein nimmt in «Lotterie mit der Judikative? – Die demokratische Tradition von Losverfahren bei der Besetzung von Gerichten» direkten Bezug auf das wohl umstrittenste Element der Justizinitiative, das Element des Losverfahren, und zeigt auf, dass dieses der demokratischen Legitimation der Richterinnen und Richter nicht schadet. Katja Rost/Malte Doehne/Margit Osterloh begründen im Beitrag «Richter*in per Los» die Vorteile fokussierter Losverfahren, wenn es um die Besetzung prestigereicher Stellen geht, für die eine Vielzahl qualifizierter Bewerber und Bewerberinnen zur Verfügung stehen, und bringen Vorschläge für eine – wohl auf Gesetzesstufe vorzunehmende – Präzisierung der Justizinitiative an. Überlegungen zur Verfeinerung des Losverfahrens präsentieren auch Daniel Schwarz/Michael Erne im Beitrag «Wahlhilfe-Methodik zur Wahrung politischer Ausgewogenheit an Gerichten», in welchem sie sich mit Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung der Methodik von Online-Wahlhilfen auf Richterauswahl aus politikwissenschaftlicher Sicht befassen.
Einen anderen Aspekt des Auswahlverfahrens nehmen die Beiträge von Ulrich Meyer, Rachel Cahill-O’Callaghan und Ryan Malphurs/Thomas Stadelmann auf; sie befassen sich mit der Frage, worauf bei der Auswahl geachtet werden sollte: Ulrich Meyer berichtet aus seiner Praxiserfahrung über «Die für die Entscheidfindung der Richterin und des Richters massgeblichen individuellen Elemente», Rachel Cahill-O’Callaghan analysiert in «Beneath Politics: Values Based Judicial Appointment» die Rolle von Werten bei der richterlichen Entscheidfindung und deren Folge für die Richterauswahl, und Ryan Malphurs/Thomas Stadelmann zeigen in «Politics and Judges: Improving Judicial Decision-making» auf, welche Folgerungen sich aus dem Verständnis der Entscheidfindung als deliberativer Prozess ergeben. Ebenfalls zu diesem Themenbereich gehört der Beitrag von Jean Danet «Recrutement et carrière de magistrats de l’ordre judiciaire en France : un système au mérite, complexe et en évolution», der aufzeigt, wie das französische System von der Leistungsauslese bestimmt wird.
Mit dem Auswahlverfahren an sich einerseits und dessen Verbesserungsmöglichkeiten andererseits befassen sich Arthur Brunner/Thomas Stadelmann in der Darstellung der Aufgabe von Gerichtskommissionen und dgl. in Bund und ausgewählten Kantonen, und Spartaco Chiesa im Beitrag «Elezione e rielezione di magistrati nel Canton Ticino», bzw. Werner Raschle im Beitrag «Anspruch an Richterwahlen: professionell statt verpolitisiert» sowie Lena Adelmann/Jennifer Wiedmer im Beitrag «Bundesrichterrekrutierung mittels Künstlicher Intelligenz?». Auch Ständerat Andrea Caroni, der Präsident der Gerichtskommission, macht sich im Interview, welches von Arthur Brunner/Thomas Stadelmann geführt wurde, Gedanken dazu, welche Verbesserungen beim heutigen Auswahlverfahren unter Beibehaltung der zentralen Rolle der Gerichtskommission sinnvoll wären.
Mit einer praktischen Anwendungsfragen der Richterbestellung bzw. der Wiederwahl beschäftigen sich Peter Bieri/Michelle Angela Grosjean/Karl-Marc Wyss im Beitrag «Altersgrenze und Rechtsschutz bei Richterwahlen», in welchem sie das Urteil des Bundesgerichts 1C_295/2019 und 1C_357/2019 vom 16. Juli 2020 und seine Bedeutung für die Richterwahlen in der Schweiz besprechen.
Abgerundet wird die Ausgabe durch die ständigen Rubriken «Kolumne der SVR-ASM», diesmal verfasst von Dieter Freiburghaus, und das «Venice Commission Observatory».
Wir wünschen eine anregende Lektüre!
Arthur Brunner, Stephan Gass, Sonia Giamboni, Andreas Lienhard, Hans-Jakob Mosimann, Annie Rochat Pauchard, Thomas Stadelmann