Liebe Leserinnen und Leser
Die vorliegende Ausgabe von «Justice – Justiz – Giustizia» umfasst eine breite Palette von Beiträgen und widmet sich insbesondere aktuellen Entwicklungen.
Zu erwähnen sind an erster Stelle die Beiträge von Bundesrätin Simonetta Sommaruga und Yann Grandjean. Beide richten den Blick auf eine grundlegende Thematik, mit der sich die Richterzeitung wiederholt befasst hat: Das institutionelle Verhältnis des Richters zu den anderen Staatsgewalten.
Bundesrätin Simonetta Sommaruga referierte am diesjährigen Richtertag in Luzern über die politische Rolle des Richters im weiteren Sinn. Gestützt auf ausgewählte Entscheide des Bundesgerichts schildert die prominente Referentin den Einfluss richterlicher Entscheidungen auf die Legislativ- und Exekutivorgane des Bundes sowie die Auswirkungen auf die Gesetzgebung.
Yann Grandjean, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Fribourg, fasst unter dem Titel «Le rôle du juge dans le cycle des politiques publiques» seinen Beitrag zusammen, welcher in der Reihe «Cahiers de l’IDHEAP» erschien. Er stellt die Frage, ob die Rolle des Richters auf die Anwendung des Rechts begrenzt ist, oder ob seine Kompetenzen eher normativer Natur und daher eher politisch sind. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass eine Antwort nicht eindeutig möglich ist. Anhand von Beispielen aus der Jurisprudenz zeigt er, dass der Richter aufgrund seiner Kompetenz zur Interpretation von Gesetzen deren Anwendung beeinflussen kann. Er wird damit Teil des normativen Prozesses und ist somit an der Gestaltung der Rechtspolitik beteiligt. Diese Rolle beschränkt sich auf sog. «Mikropolitik»; der Einfluss der Richters hängt wesentlich von der Überzeugungskraft und Kohärenz seiner Entscheidungen ab.
Unter den weiteren Beiträgen sind vor allem die besonders umfassenden und wissenschaftlich dokumentierten Artikel von Prof. Arnold Marti und Prof. Wolfgang Ernst zu erwähnen. Sie befassen sich mit Fragen der Entscheidfindung und deren Verlautbarung bei mehrköpfigen Richterkollegien, wenn innerhalb des Gremiums Meinungsverschiedenheiten bestehen – insbesondere mit sogenannten «dissenting opinions». Prof. Ernst zeigt die historische Entwicklung der Problematik auf und vergleicht die Lösungsansätze des kontinental-europäischen und des angelsächsischen Rechtsraumes. Arnold Marti, der beim Richtertag im Jahr 2011 zu Fragen der «dissenting opinion» vortrug, postuliert die Einführung dieses Instrumentes in unser Rechtssystem.
Wir bleiben beim Einfluss des Richters auf den politischen Prozess im Rahmen des Beitrages von Nationalrat Kurt Fluri. Er beschreibt die Schwierigkeiten des sehr kontroversen Themas der Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit beim Bundesgericht. Der Autor befürwortet eine solche zusätzliche Kompetenz des Bundesgerichts, welche eine Aufhebung des Art. 190 BV zur Folge hätte. Weiter zeigt der Verfasser Lösungsansätze auf für den Konflikt, der darüber zwischen National- und Ständerat entstanden ist. Diese befassen sich in der aktuellen Wintersession mit dem Geschäft.
Obwohl Richter grundsätzlich gewohnt sind, für sich und eher isoliert zu arbeiten, ändern sich die Dinge. Dies beschreiben Daniela Winkler, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kompetenzzentrum für Public Management an der Universität Bern und Matthias Stein-Wigger, Präsident des Zivilgerichts Basel-Stadt. Erstere berichtet über die Jahreskonferenz 2012 der EGPA (European Group for Public Administration), welche zum Ziel hat, den Informationsaustausch innerhalb der Justiz zu fördern – mit dem Schwerpunkt auf der Kommunikation und dem Management von Gerichten. Der zweite Autor zeigt auf, dass nach der Vereinheitlichung des Zivil- und Strafprozessrechtes die Richter in unserem Land ihre Erfahrungen austauschen sollten. Hierbei unterstützt sie ein gemeinsames Projekt des SVR, der Schweizerischen Richterakademie, der Stiftung für die Weiterbildung der schweizerischen Richterinnen und Richter sowie der Zentralschweizerischen Vereinigung der Richterinnen und Richter. Das Programm sieht einen gegenseitigen Besuch von Richtern vor, um sich auszutauschen über die erste Erfahrungen bezüglich der neuen Prozessordnungen, die den Gerichten zur Verfügung stehenden Mittel und Techniken der Kommunikation.
Die Pläne des Bundesgerichts, sein selbständig entwickeltes Software-Paket «Open Justitia» anderen Gerichten zur Verfügung zu stellen, sorgen für Wellen, welche sich bis zum Bundesparlament ausbreiten. Mittels einer Presseschau bietet die vorliegende Ausgabe einen Überblick zu diesem aktuellen Thema.
Wie gewohnt wird schliesslich über aktuelle Entwicklungen, Berichte zu personellen Veränderungen in den Kantonen sowie weitere, bereits in anderen Medien veröffentlichte Beiträge informiert.