Liebe Leserinnen und Leser,

Die erste Ausgabe der Richterzeitung im Jahr 2024 enthält einen bunten Strauss von Beiträgen: Thierry Urwyler befasst sich mit der bundesgerichtlichen Praxis, gemäss welcher Privatgutachten im Massnahmenrecht nicht derselbe Stellenwert zukommt wie amtlichen Gutachten; er gibt seiner Auffassung Ausdruck, dass diese Praxis auf einer verbotenen Beweisregel beruhe und plädiert dafür, den Beweiswert von Privatgutachten − gleich wie bei amtlichen Gutachten − anhand inhaltlicher Qualitätskriterien zu bestimmen. Romain Lang befasst sich mit der Bestimmung von Art. 301 lit. b ZPO, gemäss welcher dem Kind, welches das 14. Altersjahr vollendet hat, gewisse (familienrechtliche) Entscheide zu eröffnen sind; nach einer Darstellung des Regelungsgehalts der Norm erörtert er (am Beispiel des Kantons Fribourg) deren praktische Umsetzung. Er plädiert dafür, die Eröffnung des Entscheids mit einem erläuternden Schreiben zu verbinden, damit dem Informationsbedürfnis des Kindes Rechnung getragen wird, und präsentiert ein konkretes Umsetzungsbeispiel.

Drei Beiträge befassen sich mit dem Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) in der Justiz: Thomas Kürsteiner erörtert auf Grundlage konkreter Anwendungsbeispiele in China, Brasilien und Estland Chancen und Risiken des Einsatzes von KI in der Schweizer Justiz; ausgehend von der Annahme, dass früher oder später kein Weg daran vorbeiführt, KI-Technologien in unsere Rechtsprechungsprozesse zu integrieren, spricht er sich dafür aus, die Diskussion über den Einsatz von KI in der schweizerischen Justiz in den geeigneten Foren zeitnah anzugehen. David Schneeberger benennt verschiedene konkrete Anwendungsfelder von KI in der Justiz (Rechtsmitteleingang, Spruchkörperbesetzung, Instruktion, Entscheidungsfindung, Fallabschluss); er sieht im Einsatz von KI − richtig dosiert − eine grosse Chance für eine effizientere, transparentere und zugänglichere Justiz, weist jedoch auch darauf hin, dass ethischen und datenschutzrechtlichen Bedenken Rechnung getragen werden muss. In den «Juria»-Beiträgen findet sich eine Kurzdarstellung der EU-Verordnung über die Digitalisierung der justiziellen Zusammenarbeit und den Zugang zum Recht.

Die Effizienz der Justiz, die im Beitrag von David Schneeberger kurz gestreift wird, kommt auch im Beitrag von Andrea Titz zur Sprache: Sie beleuchtet die Spannungsfelder, die zwischen richterlicher Unabhängigkeit und der (in Deutschland) stetig steigenden Falllast bestehen. Dabei erörtert sie nicht zuletzt auch den Einsatz technischer Hilfsmittel; in diesem sieht sie eine gewisse Gefahr für die eigenständige richterliche Entscheidungsfindung. Der Vorgang der richterlichen Entscheidungsfindung ist Gegenstand eines Buchs Hans-Joachim Strauchs mit dem Titel «Richterliche Urteilsfindung»; Matthias Kradolfer rezensiert das Buch für uns.

Lorenz Langer knüpft an die auf Bundesebene geführten Diskussionen an, wie das (Aus-)Wahlverfahren von Richterinnen und Richtern verbessert werden könnte; den aktuell im Raume stehenden Vorschlag, der Gerichtskommission der Vereinigten Bundesversammlung einen Fachbeirat zur Seite zu stellen (vgl. p.Iv. Arslan, Auswahlverfahren der Richterinnen und Richter der eidgenössischen Gerichte optimieren, Curia Vista 23.485, 22. Dezember 2023), beurteilt er mit Blick auf die primär republikanische und demokratische Legitimationsgrundlage des Bundesrichteramtes in der Schweiz kritisch; als denkbar erachtet er den Einsatz eines Fachbeirates hingegen im Zusammenhang mit der Erstwahl von Richterinnen und Richtern an die erstinstanzlichen Gerichte des Bundes. 

Verschiedene Beiträge bewegen sich an der Schnittstelle von Richterethik und disziplinarrechtlicher Verantwortlichkeit. Anknüpfend an ihren Beitrag «Disziplinarrecht für Richterinnen und Richter: Quo vadis?» (Justice - Justiz - Giustizia 2023/4) weist Catherine Reiter auf die Empfehlungen zur Ausgestaltung von Disziplinarverfahren gegen Richterinnen und Richter hin, die in die Warschauer Empfehlungen 2023 betreffend die richterliche Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit Eingang gefunden haben (vgl. zu den Warschauer Empfehlungen auch den Juria Beitrag «Recommendations on Judicial Independence and Accountability» in dieser Ausgabe). Jean-François Meylan erörtert die Frage, was vorzukehren ist, damit richterethische und richterdeontologische Prinzipien in der Berufspraxis von Richterinnen und Richtern effektiv zum Tragen kommen. Auch Marcel Ogg beschäftigt sich mit Richterethik; ausgehend von der Grundannahme, dass das Vertrauen in die Justiz entscheidend von einem ethisch korrekten Verhalten jeder einzelnen Richterperson abhängt, stellt er fest, dass Ethikcodices zwar wichtige Orientierungshilfen bilden können, ethisches Verhalten letztlich jedoch massgeblich davon abhängt, dass jeder einzelne Richter und jede einzelne Richterin ihrer ethischen Verantwortung durch Selbstreflexion und wirksame Selbstkontrolle im Richteralltag nachkommen. Er ermuntert dazu, vom Angebot der Schweizerischen Richtervereinigung (SVR-ASM) Gebrauch zu machen, der Ethikkommission der SVR-ASM Anfragen zu unterbreiten, wenn sich in einem konkreten Fall die Frage stellt, ob ein bestimmtes Verhalten richterethisch geboten, verboten oder erlaubt sei.

Ausgehend von der Feststellung, dass die heutige Regelung des Strafvollzugs durch (interkantonales) Konkordatsrecht an gewisse funktionale Grenzen stösst, plädiert Bundesstrafrichter Maurizio Albisetti Bernasconi in der Kolumne der SVR-ASM dafür, die − bisher rudimentären − bundesrechtlichen Vorgaben auszubauen und insbesondere die Rechte und Pflichten von Personen mit Freiheitsentzug sowie die Haftbedingungen zu harmonisieren. Ferner betont er die Bedeutung eines adäquaten und zugänglichen gerichtlichen Rechtsschutzes in diesem Bereich.

Zwei Beiträge greifen justizrelevante Entwicklungen auf Gesetzgebungsebene auf: Karl-Marc Wyss, Christoph Jenni und Stephan Jau geben eine Übersicht über die parlamentarischen Geschäfte und Gesetzgebungsprojekte betreffend das eidgenössische Gerichtswesen in den Jahren 2022 und 2023 (siehe betreffend die Jahre 2020/2021 Karl-Marc Wyss/Lukas Schaub, Justizia im Bundeshaus 2020/21, Justice - Justiz - Giustizia 2021/4). Giannina Spescha und Karl-Marc Wyss berichten über neu in Kraft getretene, beschlossene und angedachte Änderungen des Bundesgerichtsgesetzes sowie Inhalt und Folgen des bundesrätlichen Postulatsberichts «Revisionsbedarf Bundesgerichtsgesetz» vom 24. Januar 2024. Als Mitarbeitende des Bundesamts für Justiz verfolgen die Autoren die entsprechenden Entwicklungen in Bern aus nächster Nähe.

Abgerundet wird die Ausgabe wie gewohnt durch die Updates zur «Bibliographie zum Richterrecht» sowie zu den Geschäften aus dem Parlament. Besonders hinweisen möchten wir Sie schliesslich auf die Tagung «Transparente Justiz? − Gerichtsurteile im Spannungsfeld zwischen Öffentlichkeit und Schutz der Privatsphäre», welche am 21. Juni 2024 in Bern stattfindet.

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.

Arthur BrunnerStephan GassSonia GiamboniAndreas LienhardHans-Jakob MosimannAnnie Rochat PauchardThomas Stadelmann

Science
Der Beweiswert von Privatgutachten zur Schuldfähigkeit und Massnahmenindikation
Thierry Urwyler
Thierry Urwyler
Privatgutachten haben in der aktuellen Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht denselben Stellenwert wie amtliche Gutachten. Der vorliegende Beitrag zeigt auf, dass diese Rechtsprechung auf einer verbotenen Beweisregel beruht. Der Beweiswert von Privatgutachten ist wie bei amtlichen Gutachten im Einzelfall anhand inhaltlicher Qualitätskriterien zu beurteilen.
Künstliche Intelligenz und Rechtsprechung diskutiert am Beispiel der Begründungspflicht
Thomas Kürsteiner
Thomas Kürsteiner
Ist die Schweizer Judikative bereit für das Zeitalter der «Künstlichen Intelligenz» (KI)? Welche Chancen beinhaltet und welche Risiken birgt der Einsatz von KI in der Rechtsprechung? Vor dem Hintergrund der bundesverfassungsrechtlichen Begründungspflicht diskutiert der Autor diese und weitere Fragen und vermittelt seiner Leserschaft anhand konkreter Beispiele aus drei Jurisdiktionen (China, Brasilien und Estland) einen Eindruck davon, wie Pionierstaaten KI für die Aufgaben der Judikative für sich nutzbar gemacht haben. In diesem Beitrag plädiert der Autor dafür, dass es jetzt an der Zeit sei, die zukünftige Rolle der KI in der Rechtsprechung zu klären.
Ein Fachbeirat für die Gerichtskommission?
Lorenz Langer
Lorenz Langer
Im Anschluss an die Justiz-Initiative und als Folge internationaler Kritik wird das bisherige (Aus-)Wahlverfahren von Bundesrichterinnen und Bundesrichtern zunehmend in Frage gestellt. Aktuell befasst sich die Politik mit dem Vorschlag, einen Fachbeirat einzurichten, der die Gerichtskommission bei der Prüfung von Bewerberinnen und Bewerbern unterstützen soll. Der Beitrag verortet ein solches Gremium innerhalb der schweizerischen Gerichtstradition und analysiert den konkreten Vorschlag der ständerätlichen Rechtskommission kritisch.
Forum
La communication de la décision à l’enfant en droit de la famille (art. 301 let. b CPC)
Romain Lang
Romain Lang
Selon les termes de l’art. 301 let. b CPC, une décision rendue dans une affaire du droit de la famille doit être communiquée à l’enfant s’il est âgé de 14 ans au moins. L’auteur expose les problèmes rencontrés lors de la mise en œuvre de ce véritable droit conféré à l’enfant. Après une analyse de l’étendue de cette communication (destinataire, éléments, moyens et moment de la communication) il met en lumière la pratique judiciaire des autorités du canton de Fribourg. Enfin, il formule une proposition de mise en œuvre de l’art. 301 let. b CPC par l’envoi d’une lettre explicative à l’enfant.
Digitale Wende in der Rechtsprechung: Der Einfluss von KI auf die Justiz
David Schneeberger
David Schneeberger
Die Justiz sieht sich mit zunehmender Komplexität und Erledigungsdruck konfrontiert, während gleichzeitig Fachkräftemangel und steigende Dokumentenmengen Herausforderungen darstellen. Vor diesem Hintergrund erscheint die digitale Transformation als rettender Anker, insbesondere durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI). Doch was bedeutet dieser technologische Fortschritt konkret für die Rechtsprechung? Der folgende Fachbeitrag beleuchtet die Potenziale, die der Einzug von KI in die Justiz mit sich bringt.
Wieviel Effizienz verträgt der Rechtsstaat?
Andrea Titz
Andrea Titz
Die Wahrung und Stärkung des Rechtsstaats ist heute wichtiger denn je. Ein fundamentales Element des Rechtsstaats ist dabei die Unabhängigkeit der Justiz, die – richtig verstanden – nicht nur die Richterinnen und Richter vor äusserer Einflussnahme schützt, sondern ihnen auch Verpflichtung in ihrer täglichen Arbeit sein muss. Der folgende Beitrag befasst sich mit der praktischen Umsetzung dieses hohen berufsethischen Anspruchs im Arbeitsalltag der deutschen Richterinnen und Richter.
Die Warschauer Empfehlungen: Neue Erkenntnisse für das richterliche Disziplinarwesen?
Catherine Reiter
Catherine Reiter
Die Diskussionen um die Ausgestaltung von Disziplinarwesen für Richterinnen und Richter spitzen sich zu, auch international. In die Warschauer Empfehlungen (Warsaw Recommendations) 2023 betreffend die richterliche Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit (Recommendations on Judicial Independence and Accountability) wurden daher auch Empfehlungen zur Ausgestaltung solcher Disziplinarwesen aufgenommen. Es drängt sich im Sinne eines Updates zu dieser Thematik deshalb auf, zu prüfen, ob diese Richtlinien dem aktuellen Erkenntnisstand in der Schweiz entsprechen oder sich neue Erkenntnisse aufdrängen.
L’éthique au quotidien : sources et perspectives
Jean-François Meylan
Jean-François Meylan
L’éthique et la déontologie des magistrats ne sont pas seulement des principes théoriques. Ce sont des réflexions qui doivent trouver un ancrage concret, une traduction dans l’activité du magistrat. Il s’agit de former de « bons juges » de façon à renforcer la confiance dans la justice. Propositions de pistes concrètes.
Die richterethische Entscheidung
Marcel Ogg
Marcel Ogg
Soll eine Strafrichterin in der Verhandlungspause allein mit der Staatsanwältin etwas trinken gehen? Der Angeklagte, der das bemerkt, stört sich daran und zweifelt an der Unbefangenheit der Richterin. Die Antwort auf diese und weitere richterethische Fragen gibt nicht das Bauchgefühl, sondern die Antwort ist strukturiert, entlang einem Prüfprogramm, bestehend aus mehreren Schritten, zu finden. Gerne unterstützt Sie dabei die Ethikkommission der Schweizerischen Richtervereinigung. Ihre Anfrage an ethik@svr-asm.ch ist willkommen.
Kolumne SVR
Per una legge federale di applicazione ed esecuzione delle sanzioni penali
Maurizio Albisetti Bernasconi
Maurizio Albisetti Bernasconi
Associations
Call for papers − EGPA Annual Conference 2024
Permanent Study Group XVIII on Justice and Court Administration
Permanent Study Group XVIII on Justice and Court Administration
The Permanent Study Group XVIII on Justice and Court Administration invites submissions to the next EGPA Annual Conference in Athens, Greece, on 3–6 September 2024, and welcomes paper submissions on the administration and the management of justice.
News CH
Justitia im Bundeshaus 2022/23
Karl-Marc Wyss
Karl-Marc Wyss
Christoph Jenni
Christoph Jenni
Stephan Jau
Stephan Jau
In den Jahren 2022 und 2023 behandelte die Bundesversammlung diverse Geschäfte, die das eidgenössische Gerichtswesen betrafen. Von Interesse sind einerseits die Entwicklungen im Nachgang zur Justiz-Initiative sowie der neue Anlauf zu einer Revision des Bundesgerichtsgesetzes (BGG). Andererseits hervorzuheben sind das Projekt «Justitia 4.0» und die damit verbundene Gesetzgebung (BEKJ) sowie parlamentarische Vorstösse, die den Geschäftsverkehr mit den Gerichten nachhaltig verändern könnten. Der vorliegende Beitrag bildet überblicksartig die wichtigsten Geschäfte zum Gerichtswesen und deren Stand in den Jahren 2022 und 2023 ab, verbunden mit geschäftsspezifischen Anmerkungen der Autoren.
Das Bundesgerichtsgesetz 2024+
Giannina Spescha
Giannina Spescha
Karl-Marc Wyss
Karl-Marc Wyss
Allein in den letzten zwei Jahren wurde das Bundesgerichtsgesetz 7-mal geändert und weitere Modifikationen sind in Planung. Der vorliegende Beitrag bietet einen Überblick über diese neu in Kraft getretenen sowie die beschlossenen und mittelfristig geplanten Änderungen. Im Vordergrund steht dabei die auf den Postulatsbericht «Revisionsbedarf Bundesgerichtsgesetz» folgende Vernehmlassungsvorlage, welche die weiterhin sinnvollen und mehrheitsfähigen Revisionsvorschläge von 2018 aufgreifen soll. Der Beitrag thematisiert zudem weitere angedachte Änderungen, wie die Normen zur elektronischen Kommunikation oder zur Fristenharmonisierung, sowie einige neue Reformansätze.
Tagung: «Transparente Justiz? – Gerichtsurteile im Spannungsfeld zwischen Öffentlichkeit und Schutz der Privatsphäre»
Juria
Juria
Parlament aktuell / Parlament actualités / Notizie dal Parlamento (Update 4; 10.3.2024)
Parlament (Bearbeitung/Auswahl: Juria)
Parlament (Bearbeitung/Auswahl: Juria)
Im Schweizer Parlament behandelte oder hängige Geschäfte, welche die Judikative betreffen / Affaires traitées ou en discussion au Parlement suisse qui concernent le pouvoir judiciaire / Procedure riguardanti il potere giudiziario trattate o pendenti presso il Parlamento svizzero
News abroad
Digitalisierung der Justiz: Neue Verordnung sorgt für mehr Effizienz, Qualität und Transparenz
Juria
Juria
Recommendations on Judicial Independence and Accountability
Juria
Juria
Berichterstattung der EU-Kommission über die Rechtsstaatlichkeit 2023 – Analyse des Rechnungshofs
Juria
Juria
By sitting in a case despite their regular professional contacts with one of the parties, Court of Cassation judges cast legitimate doubt on their objective impartiality
Juria
Juria
Literature
Rezension: Hans-Joachim Strauch, Richterliche Urteilsfindung
Matthias Kradolfer
Matthias Kradolfer
Wie kommen Richterinnen und Richter zu ihrem Urteil? Das zu besprechende Buch gibt darauf eine kompakte, aber komplexe Antwort. Richterinnen und Richter verknüpfen juristische Methodik mit praktischen Erkenntnissen, dies mit dem Ziel, zu einem kohärenten Ergebnis zu gelangen.
Bibliografie zum Richterrecht – Update 64
Juria
Juria
Eine Gesamtübersicht der Bibliografie finden Sie auf: https://sifj.ch/dokumentation/bibliography/