Justice - Justiz - Giustizia

Liebe Leserinnen und Leser,

Sind die Richterinnen und Richter des Obersten Gerichtshofs der USA nicht einfach nur «Politiker in Roben»? In einem spannenden Einblick in die Geschichte des Supreme Court zeichnet Professorin Claudia Franziska Brühwiler («Politiker in Roben?»), Lehrstuhlinhaberin für amerikanisches politisches Denken und Kultur an der Universität St. Gallen, ein Bild der komplexen und schwankenden Beziehungen zwischen der politischen und der richterlichen Macht in den USA. Zwar wird der Oberste Gerichtshof als solcher seit den 1970er-Jahren nicht mehr als politisches Organ wahrgenommen, doch das Verfahren zur Bestätigung von Richterinnen und Richtern wurde zunehmend politisiert. Zusammenfassend kommt die Autorin zu dem Schluss, dass der Oberste Gerichtshof seit jeher eine politische Institution ist, die wiederholt eine gewisse gesetzgeberische Macht ausgeübt hat, gerade in gesellschaftlichen Fragen, bei denen der Gesetzgeber in eine Pattsituation geraten ist.

Die von der Verfassung geschützte Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter kann gefährdet sein, wenn die Gestaltung der Organisation der Justiz strukturelle Einflüsse ermöglicht oder zur Regel werden lässt. In seinem Beitrag versucht der Luzerner Richter Roland Huber («Mit der Organisation der Justizverwaltung verbundene Risiken für die richterliche Unabhängigkeit») am Beispiel der Organisation der erstinstanzlichen Gerichte im Kanton Luzern aufzuzeigen, welche Strukturen zu Machtmissbrauch oder problematischer Einflussnahme führen können.

Dieselbe Sorge um die Unabhängigkeit der Justiz hat den Kanton Waadt dazu veranlasst, einen Justizrat einzurichten, der am 1. Januar 2023 seine Arbeit aufgenommen hat. Alex Dépraz, Richter am Waadtländer Kantonsgericht und stellvertretendes Mitglied des besagten Rates, zeichnet ein Porträt dieser neuen Institution («Le Conseil de la magistrature vaudois  – Une nouvelle institution au service de la justice»). In diesem Sinne hat das Stimmvolk des Kantons Bern am vergangenen Wochenende zugestimmt, den Grundsatz der Selbstverwaltung der Justiz auf Verfassungsebene zu verankern (siehe Rubrik «News CH»). In Österreich wiederum wurde kürzlich eine Gesetzesänderung vorgenommen, die mehr Transparenz in das Verfahren zur Ernennung von Kandidatinnen und Kandidaten für das Amt des Präsidenten und Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs bringt. Yvonne Summer, Richterin am Landesgericht Feldkirch, berichtet über die neuesten Entwicklungen.

Ausgehend von einer rechtssoziologischen Perspektive stellt Stefan Wiprächtiger, Gerichtspräsident am Bezirksgericht Luzern, einige Überlegungen an, die ihn zu der Ansicht führen, dass der Richter bzw. die Richterin sich aktiver in den Gesetzgebungsprozess einbringen sollte, um insbesondere zu verhindern, dass Gesetzesentwürfe, die bei ihrer praktischen Umsetzung zum Scheitern verurteilt wären, durchgewunken werden. Die Richterin bzw. der Richter sollte also verstärkt mit der Politik und der Gesellschaft kommunizieren («Vom Sprachrohr zum Kommunikator – Gedanken zu einem modernen Richterbild»).

Wenn es jemals wichtige Helferinnen und Helfer für die Justiz gegeben hat, dann sind es die Übersetzerinnen und Übersetzer. In ihrem Beitrag («Sprachdienstleistungen in juristischen Verfahren») unterscheiden Tanja Huber, Robert Schibli und Annina Hsu-Gürber drei spezifische Tätigkeiten von Sprachdienstleistern in juristischen Verfahren und deren Auswirkung auf die Anforderungen, die Ausbildung und die Akkreditierung.

Die therapeutischen Massnahmen und die Verwahrung, die vom Strafgericht auf der Grundlage von Art. 56 ff. des Schweizerischen Strafgesetzbuches angeordnet werden können, werfen heikle Probleme auf, sei es in Bezug auf das Konzept eines Rechtsstaates oder in Bezug auf die den Richterinnen und Richtern übertragene Verantwortung, die ein Gleichgewicht zwischen den beiden Grundwerten «Freiheit» und «Sicherheit» finden muss. Zwei Beiträge, bei denen es sich um Mitschriften von Vorträgen handelt, die anlässlich des Tages der Richterinnen und Richter vom 18. November 2022 in Luzern gehalten wurden, befassen sich mit dieser Thematik (Stephan Bernard, «Verfahren betreffend therapeutische Massnahmen und die Verwahrung – Ein Wunschkonzert an die dritte Gewalt» und Reto Kropf, «Das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit – Eine Reflexion anhand des strafrechtlichen Massnahmenrechts»).

Die Veröffentlichung von vier Abschlussarbeiten von Kandidatinnen und Kandidaten für den CAS «Judikative» bietet erneut die Gelegenheit, sich mit verschiedenen Aspekten der Justizwelt auseinanderzusetzen. Die Berufsausbildung zum Rechtsanwalt ist je nach Kanton immer noch recht unterschiedlich, da der Bund sich darauf beschränkt hat, ein mindestens einjähriges Praktikum zu verlangen, wobei die konkrete Organisation dieser Praktika den Kantonen überlassen wurde. In seinem Überblick zeigt Stefan Jost die bestehenden Unterschiede zwischen den Kantonen auf und geht dabei auch auf die besondere Situation der Praktika an den Gerichten ein. Bezüglich der Frage, ob eine Vereinheitlichung der Anwaltsausbildung in naher Zukunft möglich ist, zeigt sich der Autor pessimistisch, da der helvetische Föderalismus einem solchen Prozess entgegensteht («Das (Gerichts-)Praktikum in der Schweiz – ein Überblick»). In Scheidungsverfahren oder Verfahren zur Trennung der Eltern ist die Anhörung von Minderjährigen eine besonders grundlegende und empfindliche Angelegenheit. Anhand der aktuellen Praxis im Tessin kommt Milena Fiscalini zu dem Schluss, dass eine Vereinheitlichung der Praxis auf kantonaler Ebene notwendig ist, und plädiert für die Annahme von Leitlinien. Sie schlägt ausserdem eine Checkliste vor, die eine optimale Vorbereitung auf diese Art von Anhörungen ermöglichen soll («L'ascolto dei minori nel procedimento civile: la realtà ticinese»). Bei politischen Veränderungen wie etwa einem Demokratisierungsprozess sind die Richterinnen und Richter eines Landes stark gefordert. Am Beispiel von Südafrika zeigt Catherine Reiter die Spannungen auf, denen Richterinnen und Richter in einer politischen Übergangssituation ausgesetzt sein können («Die nationale Justiz in der politischen Transformation»). Ivo Hartmann befasst sich eingehend mit dem Rügeprinzip in den Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht und ergänzt seine Analyse um den Sonderfall der Plangenehmigungsverfahren auf Bundesebene («Das Rügeprinzip in den Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht»). Schliesslich erörtert Titus Gunzenreiner in seinem Beitrag («Begründung gerichtliche Zuständigkeit durch St. Galler Regierung»), ob die Befugnis der St. Galler Regierung, durch eine Verordnung eine Zuständigkeit der Verwaltungsrekurskommission zu begründen, mit Art. 30 Abs. 1 der Bundesverfassung (Recht auf ein gesetzlich vorgesehenes, zuständiges, unabhängiges und unparteiisches Gericht) vereinbar ist. Seiner Ansicht nach verstösst die bestehende Regelung gegen das Bundesverfassungsrecht.

Neben der üblichen Berichterstattung des Venice Commission Observatory und der neuesten Aktualisierung der Bibliografie möchten wir Ihre Aufmerksamkeit insbesondere auf die Rubrik «Associations» lenken, die einen «Call for papers» für die nächste Jahreskonferenz enthält, die von der European Group for Public Administration (EGPA) organisiert wird und vom 5. bis 8. September 2023 in Zagreb stattfinden wird.

Wir wünschen Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre!

Arthur BrunnerStephan GassSonia GiamboniAndreas LienhardHans-Jakob MosimannAnnie Rochat PauchardThomas Stadelmann

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