Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit ist einmal mehr die Leitlinie des grössten Teils der Beiträge, die wir Ihnen mit dieser Ausgabe der Richterzeitung präsentieren.
Die Willkommensrede an der Jubiläumsfestveranstaltung der Schweizerischen Vereinigung der Richterinnen und Richter vom 14. November 2019, gehalten vom Präsidenten Patrick Guidon unter dem eloquenten Titel «Die Unabhängigkeit der Justiz ist keine Selbsverständlichkeit» zeigt auf, wie Vorfälle der jüngsten Zeit dieses fundamentale Prinzip gefährden. Die Festrede von Sabine Matejka, Präsidentin der Österreichischen Richtervereinigung und Ehrengast am Richtertag, unterstreicht die bedeutsame Rolle der Richtervereinigungen, indem sie mithelfen, die Unabhängigkeit der Justiz in einem Rechtsstaat zu garantieren. Leider ist die Garantie ebendieser Unabhängigkeit heute keine Selbstverständlichkeit mehr.
Das Bundesgericht hat sich in den letzten Monaten zu einigen Fällen geäussert, die sich mit der verfassungsmässigen Garantie der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit im Sinne von Art. 30 Abs. 1 BV befassen, beziehungsweise mit dem Ausstand diverser Gerichtspersonen, was zwei Autoren zu Beiträgen inspiriert hat.
So analysiert Jeremias Fellmann drei jüngst ergangene Urteile, in denen sich das Bundesgericht zu unterschiedlichen Fällen geäussert hat. Insbesondere hat das Höchstgericht den Ausstand eines Gerichtsschreibers bejaht, jenen eines Teilzeit-Richters wegen wirtschatlichen Verbindungen einer seiner Handelsgesellschaften mit einem Angeschuldigten und den Ausstand einer Richterin, die einen Preis für eine Magisterarbeit erhalten hatte, gesponsort durch eine der Parteien des infragestehenden Gerichtsverfahrens.
Mit der gleichen Problematik befasst sich Daniel Kettiger, der fünf unlängst ergangene Entscheide des Bundesgerichts zum Ausstand von drei Staatsanwälten, eines Jugendrichters und von zwei Richtern des Kantonsgerichts untersucht. Insbesondere kritisiert Kettiger jenes Bundesgerichtsurteil, in welchem der Ausstand eines Staatsanwalts bejaht wird, weil einer seiner Entscheide (der sich als falsch herausstellte) Objekt zweier paralleler Verfahren wurde, eines disziplinarischen und eines strafrechtlichen.
Yvonne Summer lässt sich von einem Entscheid des österreichischen Disziplinargerichts inspirieren, der einem Richter eine Geldstrafe auferlegt hat, weil dieser auf seinem privaten Twitter-Account Vorurteile gegenüber einem Beschuldigten geäussert und abwertende Kommentare gegenüber einem Mitglied der Regierung sowie einer Richterkollegin publiziert hat. Sie versucht eine Antwort auf die Frage zu geben:«Wie ‹privat› dürfen Richterinnen und Richter sein»?
Verschiedene interessante Abschlussarbeiten, eingereicht für die Erlangung des Diploms CAS Judikative, haben Eingang in die heutige Ausgabe gefunden, beziehungsweise die Autoren inspiriert, einen Beitrag zu verfassen. Carole Geissman beschäftigt sich mit der Militärjustiz, erzählt über deren Entwicklung in der Vergangenheit und präsentiert die heutige Situation, die von der Reform im Jahre 2018 geprägt ist. Insbesondere geht sie der Frage nach, ob das lang diskutierte Thema der richterlichen Unabhängigkeit von Militärrichtern noch aktuell ist. Markus Rhyner vertieft die Thematik der Zulässigkeit von kantonsübergreifenden Gerichten, die eine interessante Lösung für kleine, bzw. finanzschwächere Kantone darstellen könnte. Er illustriert die spezifischen Bedingungen und die Argumente, die dafür oder dagegen sprechen. In ihrem Beitrag beschreibt Irene Rössler die Besonderheiten der Familiengerichte, die im Kanton Aargau geschaffen wurden, dem einzigen schweizerischen Kanton, welcher von der vom Gesetzgeber eigeräumten Befugnis Gebrauch gemacht hat. Die Autorin hebt deren orgnisatorische Aspekte und Vorteile hervor.
Der devoir de réserve der Richter ist Gegenstand des Beitrags von Julie Hirsch, welche – nachdem sie detailliert aufzeigt, worin dieses Recht besteht – die möglichen anwendbaren Sanktionen im Falle seiner Verletzung aufzählt (Ablehnung, disziplinarische Sanktion oder nicht Wiederwahl des entsprechenden Richters). Annalisa Butti stellt das Verfahren der Mediation in den Mittelpunkt. Sie erklärt die diesbezüglichen Besonderheiten und beleuchtet die Rolle der Richterinnen und Richter und der Advokaten/Advokatinnen bei der Beratung, bzw. bei der Begleitung der Parteien in einem solchen Verfahren und hebt die unbestreitbaren Vorteile des Mediationsverfahrens hervor.
Nachdem er mit Hilfe eines Computerprogramms eine grössere Anzahl Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts im Bereich der Asylrechtsprechung untersucht hat, präsentiert Tobias Ackermann seine Überlegungen bezüglich einer computergestützten Textansalyse von Urteilen.
Giacomo Oberto beschreibt eine Methode der Aktenbewirtschaftung gemäss dem System des «Case management», welche bei der Aufarbeitung von noch ausstehenden Verfahren mitgeholfen hat. Das System wurde zuerst vom Gericht der ersten Instanz in Turin, dann an den Gerichten in Piemont und im Valle d’Aosta angewendet. Es erlaubt in Zukunft eine Klassifizierung der Akten, indem sie die dringendsten Fälle identifiziert und so im Endeffekt die Fallbehandlungsdauer reduziert, so dass sie innerhalb von höchstens drei Jahren zu liegen kommt. Damit hält es die durch die Rechtsprechung des EGMR vorgegebene Fallbehandlungsdauer ein. Dieses Aktenbewirtschaftungs-System führte zur Etablierung der Europarats-Arbeitsgruppe «SATURN» (Centre for Judicial Time Management), welche im Übrigen verschiedene Richtlinien zur Reduktion der Gerichtsverfahrensdauer erlassen hat. Die Arbeitsgruppe ist eine Untergruppe der Europäischen Kommission für die Effizienz der Justiz (CEPEJ) des Europarats.
Das Unterhaltsrecht und dessen Änderungen in den letzten Jahren weisen eine wachsenden Komplexität auf und als Folge davon immer grösser werdende Verständnisschwierigkeiten bei den Rechtssuchenden. Diesem Phänomen gilt der Beitrag der SVR-Kolumne von Matthias Stein.
Thomas Stadelmann wendet sich der gravierenden Situation der Justiz in der Türkei zu, welche sich seit 2016 nicht verbessert hat. Die Europäische Richtervereinigung hat beschlossen, die türkischen Kollegen und ihre Familien zu unterstützen, die als Folge ihres Einsatzes für eine unabhängige Justiz ihre Stelle verloren haben, angeklagt und meistens zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurden, und entsprechend einen Unterstützungsfonds eingerichtet. Auch die Schweizerische Richtervereinigung ist in dieser Frage tätig geworden und es ist nun möglich, eine Spende über das in diesem Artikel ewähnte Konto zu machen.
Über die Ergebnisse des Treffens der permanenten Studienkommission «Justice and Court Administration» im Rahmen der Jahreskonferenz der europäischen Gruppe für die öffentliche Verwaltung (EGPA), die in Belfast abgehalten wurde, berichtet Tania Munz. Dieter Freiburghaus fasst zusammen, was an der Jahresversammlung der Europäischen und Internationalen Richtervereinigung (IAJ) in Nur-Sultan (Kasachstan) vom 15-19 September 2019 diskutiert wurde. Bei dieser Gelegenheit traf sich auch die Studienkommissionen der IAJ. Die Erste Studienkommission widmete sich dem Thema «Justice and Social Media». Stephan Gass bespricht in seinem Beitrag die Schlussfolgerungen, die eine Art Leitfaden für Richterinnen und Richter darstellen, die sich mit den sozialen Medien konfrontiert sehen.
Nora Lichti Aschwanden und Dieter Freiburghaus besprechen die Schlussfolgerungen der Zweiten (Zivilrecht/Zivilprozessrecht) und Dritten (Strafrecht/Strafprozessrecht) Studienkommission, welche sich der Frage der Kosten im Zivilverfahren, bzw. der Medienberichterstattung beim Strafprozess und dem Verhältnis zwischen Medien und den Strafgerichten im Allgemeinen gewidmet haben.
Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre und schöne Festtage!
Stephan Gass, Sonia Giamboni, Andreas Lienhard, Hans-Jakob Mosimann, Annie Rochat Pauchard, Thomas Stadelmann