Liebe Leserinnen und Leser

Die Ausgabe 2014/2 von «Justice - Justiz - Giustizia» konzentriert sich nicht auf einen speziellen Themenbereich. Bei genauerem Hinsehen finden sich aber ein paar Gemeinsamkeiten der dargebrachten Beiträge. So nehmen drei Beiträge – von Philipp H. Haberbeck, von Rainer Stadler, beide Anwälte in Zürich, und von Patrick M. Müller, Richter am Verwaltungsgericht Luzern – auf die tägliche Arbeit der Richter Bezug.

Werfen wir einen näheren Blick auf die Zusammenhänge:

In seinem Beitrag «Plädoyer für eine grosszügige Zulassung von Ergänzungsfragen nach Art. 173 ZPO» konzentriert sich Philipp H. Haberbeck auf die Frage der Zeugenvernehmung im Zivilprozess. Diese Aufgabe ist traditionell und gemäss Art. 172 ZPO dem Richter übertragen. Art. 173 ZPO ermöglicht zwar Parteien zu beantragen, den Zeugen Ergänzungsfragen zu stellen, die Bestimmung wird aber nur restriktiv angewandt und die Rolle der Parteien wird in diesem Fall auf ein Minimum reduziert. Haberbeck fordert eine weitere Auslegung des Gesetzes, die bis hin zum «Kreuzverhör» gehen soll und besser zur Wahrheitsfindung geeignet ist. Schweizer Richter würden so in diesem Punkt ein bisschen näher an das angelsächsische Modell rücken.

Patrick M. Müller berichtet unter dem Titel «Geschäftslastbewirtschaftung mittels Lastenkennziffern. Erfahrungen am Verwaltungsgericht des Kantons Luzern» basierend auf einer vom Kompetenzzentrum für Public Management der Universität Bern durchgeführten Studie, auf welche Art und Weise in Luzern Ungleichheiten bei der Arbeitsbelastung der Gerichte, die als Ineffizienz- oder Frustrationsquelle wirkten, korrigiert werden. Diese Studie könnte auch für andere Kantone hilfreich sein.

Schliesslich hebt Rainer Stadler, ebenfalls Anwalt in Zürich, in seinem Beitrag «Braucht es Pikett-Richter für Notfälle?» den Kontrast hervor zwischen ständiger Erreichbarkeit und globaler Präsenz in sozialen Netzwerken, die zu Fehlentwicklungen führen können einerseits und der Verwaltungsstarrheit, die es sehr schwer macht, einen Richter ausserhalb der Bürozeiten (z.B. für Sofortmassnahmen) zu erreichen, andererseits. Auf Basis des Beispiels Englands, wo es sogenannte «out of hour-judges» – also Richter auf Pikett – gibt, plädiert er für ein Telefonsystem in der Schweiz.

All dies sind Punkte, die die Arbeitsbelastung und -methoden der Richter betreffen.

Die Frage nach dem Modus der Wahl und Wiederwahl von Richtern und deren Auswirkungen auf ihre Unabhängigkeit ist ein Dauerthema. Mit der jüngsten Revision seiner Verfassung hatte der Kanton Genf die Möglichkeit, auf eine Wahl der Richter durch das Volk zu verzichten und so die Unabhängigkeit der Justiz wieder zu stärken. Damit folgte der Kanton Genf einem Trend, der auch in verschiedenen anderen Kantonen beobachtet wird. Doch die Richter werden nicht nur weiterhin für einen Zeitraum von sechs Jahren durch das Volk gewählt, sondern auch der oberste Justizrat setzt sich nur zu einer Minderheit aus Mitgliedern der Justiz zusammen. Stéphane Grodecki, Erster Staatsanwalt von Genf, bedauert dies in seinem Beitrag «Réflexions sur l’indépendance de la Justice à l’aune des évolutions institutionnelles genevoises». Er war darüber hinaus überrascht, dass der Bundesrat sich bereit erklärt hatte, der neuen Verfassung ohne Vorbehalt zuzustimmen, stehen doch genau diese Punkte mit Sicherheit im Widerspruch zur Empfehlung des Europarates.

Im Jahr 1990 hat der SVR eine Studie zu Modi der Wahl der Richter in der Schweiz durchgeführt und bei dieser Gelegenheit auch die verschiedenen Typen von Gerichten erfasst. Bis heute existiert jedoch keine abschliessende Liste der verschiedenen kantonalen und eidgenössischen Gerichte. In seinem Beitrag «Die Gerichte der Schweiz – Eine Übersicht» definiert Peter Bieri, Rechtsanwalt, den Begriff des Gerichts als autonome und unabhängige Staatsgewalt und beginnt mit der Erstellung einer solchen genannten Liste.

Ebenfalls in dieser Ausgabe enthalten sind interessante Beiträge von Andrea Hahn und Herbert Hopf aus der «Festschrift für Martin Schneider: e-Justice in Österreich. Erfahrungsberichte und europäischer Kontext». Andrea Hahn konzentriert sich auf das visuelle Erscheinungsbild – «Corporate Identity» – als Träger der Kommunikation in der Justiz. Herbert Hopf betont die Wichtigkeit des Zugangs aller Bürger zu Entscheidungen des österreichischen Obersten Gerichtshofs.

Hervorheben möchten wir auch den Beitrag von Frédéric Oberson, Generalsekretär am Kantonsgericht Freiburg, zu den Verbesserungen der gerichtlichen Organisation im Bereich des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts. Das Friedensgericht besteht obligatorisch aus einer Präsidentin oder einem Präsidenten, die oder der zwingend über eine juristische Ausbildung verfügen muss, und aus zwei Beisitzenden, die Kompetenzen in den für den Fall relevanten Fachbereichen nachweisen müssen (zum Beispiel im Bereich Psychologie).

Es ist interessant, den Bericht des Generalsekretärs des Europarates zu lesen, der aufgrund alarmierender Anzeichen vor der Verschlechterung der Achtung der Demokratie und der Achtung der Rechtsstaatlichkeit in mehreren europäischen Ländern warnt.

Zu guter Letzt noch eine positive Randbemerkung: Gabriela Knaul, Sonderberichterstatterin des UN-Menschenrechtsrates zur Unabhängigkeit von Richterinnen und Richtern sowie Anwältinnen und Anwälten hat mithilfe der IVR begonnen, ein Handbuch für Richterinnen und Richter zu verfassen, die in ihrem Land zur Einhaltung dieser Rechte berufen sind.

Wir wünschen Ihnen eine angeregte Lektüre.

Das Redaktionsteam:
Emanuela Epiney-Colombo, Stephan Gass, Regina Kiener, Hans-Jakob Mosimann, Thomas Stadelmann, Pierre Zappelli

SCIENCE
Plädoyer für eine grosszügige Zulassung von Ergänzungsfragen nach Art. 173 ZPO
Philipp Haberbeck
Philipp Haberbeck
Die Lehre vertritt hinsichtlich Ergänzungsfragen im Sinne von Art. 173 ZPO eine überwiegend restriktive Linie. Nach der in diesem Beitrag dargelegten Auffassung des Autors sprechen jedoch die ratio legis von Art. 173 ZPO sowie der verfassungsmässige Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör für eine grundsätzlich extensive Zulassung von Ergänzungsfragen bis hin zu regelrechten Kreuzverhören.
Réflexions sur l'indépendance de la justice à l’aune des évolutions institutionnelles genevoises
Stéphane Grodecki
Stéphane Grodecki
Le droit international et constitutionnel garantit le droit à un tribunal indépendant. Cela doit également garantir le droit des juges à leur indépendance. Ces principes sont examinés à la lumière des récentes modifications constitutionnelles genevoises qui ont maintenu un système d'élection, et de réélection, populaire des juges, mais surtout imposé une autorité de préavis et de surveillance des juges composée par une minorité de magistrats. Ce système, contraire aux recommandations du Conseil de l'Europe, est commenté dans cette contribution.
Die Gerichte der Schweiz – eine Übersicht
Peter Bieri
Peter Bieri
Auf die Fragen, wie viele und welche Gerichte es in der Schweiz gibt, sollte es eigentlich eindeutige Antworten geben. Solche gibt es indessen nicht. Dieser Beitrag wagt daher den Versuch, die schweizerischen Gerichte zu benennen und zugleich einen schematischen Überblick zu vermitteln.
Das visuelle Erscheinungsbild der Justiz
Andrea Hahn
Andrea Hahn
Die Justiz kommuniziert nach innen mit ihren Bediensteten und nach aussen mit Bürgern, Rechtsvertretern, anderen Prozessbeteiligten und Medien. Bei ihnen allen soll sich die Justiz ihren Aufgaben entsprechend darstellen und Informationen nach aussen und innen in einem einheitlichen Design vermitteln. Dieses Anliegen ist mit den technischen Vorgaben und dem Erfordernis nach einem klaren und verständlichen Auftritt abzustimmen. Mit einem einheitlichen Erscheinungsbild tritt die Justiz nach aussen erkennbar in Erscheinung. Das Corporate Design unterstützt die Darstellung der Justiz in ihrer Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit und begünstigt das Zusammengehörigkeitsgefühl.
Zugänglichkeit der Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs
Herbert Hopf
Herbert Hopf
Alle Entscheidungen des österreichischen Obersten Gerichtshofs sind in eine allgemein zugängliche Datenbank aufzunehmen und in anonymisierter Form nach Massgabe der technischen und dokumentalistischen Möglichkeiten im Internet bereitzustellen.
FORUM
Geschäftslastbewirtschaftung mittels Lastenkennziffer
Patrick M. Müller
Patrick M. Müller
Das ehemalige Verwaltungsgericht des Kantons Luzern bewirtschaftete in den Jahren 2010–2013 die Arbeitslast seiner Juristinnen und Juristen, indem es Gerichtsverfahren nach der Lastenkennziffer-Methode von stark belasteten auf weniger belastete Abteilungen umverteilte. Nach einer Einführung in die Hintergründe, welche die Geschäftslastbewirtschaftung erforderlich machten, und einer Vorstellung der konkret angewendeten Methode berichtet der Autor über die wichtigsten Erfahrungen, die das Verwaltungsgericht damit machte.
KOLUMNE SVR
Un apprezzamento poco apprezzato?
Roy Garré
Roy Garré
Gli articoli 1 e 4 del Codice civile svizzero offrono degli spunti di riflessione importanti per discutere con i cittadini sul funzionamento concreto del lavoro dei magistrati e sull'impossibilità di creare una legislazione che possa fare a meno dell'interpretazione e dell'apprezzamento giudiziali. Si tratta di articoli di legge che nella loro chiarezza espressiva toccano i problemi fondamentali che qualsiasi giudice si trova quotidianamente ad affrontare, cercando di applicare al meglio norme generali ed astratte all'infinita ricchezza dei casi della vita. L'apprezzamento giudiziale non è una scelta politica, ma la naturale conseguenza del fatto che non esiste un legislatore onnisciente, in grado di prevedere tutte le situazioni concrete che si potranno presentare davanti ai Tribunali.
LITERATURE
Bibliografie zum Richterrecht – Update 29
Juria
Juria
Das 29. Update der Bibliografie enthält die seit der Ausgabe 2006/3 von «Justice - Justiz - Giustizia» veröffentlichten Monographien und Aufsätze im Themenbereich der Richterzeitung.
REPRINT
Braucht es Pikett-Richter für Notfälle?
Rainer Stadler
Rainer Stadler
Wer rechtlichen Schutz sucht, wird ausserhalb der Bürozeiten nur in Ausnahmefällen einen Richter erreichen. Einige Rechtsanwälte halten das für problematisch angesichts einer Gesellschaft, die zusehends im 24-Stunden-Rhythmus tickt.
Die Belastung von Richtern und Staatsanwälten ist zu hoch und eine Gefahr für den Rechtsstaat
Guido Kirchhoff
Guido Kirchhoff
Aktuelle Untersuchungen über die Arbeitsbelastung innerhalb der deutschen Justiz zeigen besorgniserregende Entwicklungen. Die meisten Kolleginnen und Kollegen klagen über erheblich gestiegene Arbeitsbelastungen. Viele können sie nur noch durch Verringerung der Arbeitsqualität bewältigen.
Wer ist der Wächter des Wächters?
Daniel Thürer
Daniel Thürer
Wenn das Recht auf Meinungsfreiheit mit dem Gebot der Inschutznahme eines Volkes vor Diffamierung kollidiert, steht die liberale, demokratische Gesellschaft vor einem Dilemma. Welche Institution hat im Streitfall das letzte Wort, oder: Soll der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auch schweigen können?
Der Polizist will nicht mehr richten
Brigitte Hürlimann
Brigitte Hürlimann
Am Bezirksgericht Uster hört ein teilamtlich tätiger Laienrichter auf, weil ihm die Voraussetzungen für die anspruchsvolle Arbeit fehlen, wie er selber eingestehen muss. Sein Entscheid ist kein Einzelfall.
Kandidatinnen verzweifelt gesucht
Katharina Fontana
Katharina Fontana
Nicht einmal ein Drittel der Stellen an den eidgenössischen Gerichten sind durch Frauen besetzt. Werden die Frauen bei den Richterwahlen übergangen? Eine neue Auswertung kommt zu einem gegenteiligen Schluss.
NEWS CH
Neues Recht über den Kindes- und Erwachsenenschutz
Frédéric Oberson
Frédéric Oberson
Auswirkungen und getroffene Massnahmen betreffend das neue Recht über den Kindes- und Erwachsenenschutz.
BS: Regierungsrat verabschiedet Vernehmlassungsentwurf zur Totalrevision des Gerichtsorganisationsgesetzes
Juria
Juria
Der Regierungsrat Basel-Stadt hat den Vernehmlassungsentwurf für die Totalrevision des kantonalen Gerichtsorganisationsgesetzes verabschiedet. Zu den wichtigsten Revisionspunkten gehört, dass künftig nur noch die Gerichtspräsidien vom Volk gewählt werden sollen, während die Wahl der übrigen Richterinnen und Richter dem Parlament obliegen soll. Ausserdem soll die Selbstverwaltung der Gerichte verstärkt werden.
Frauen haben am Bundesgericht bessere Wahlchancen als Männer
Juria
Juria
Frauen sind an den eidgenössischen Gerichten untervertreten. Nicht einmal ein Drittel der Richterstellen am Bundesgericht sind von Frauen besetzt, am Bundesverwaltungsgericht und am Bundesstrafgericht sieht es nicht besser aus. Mit Diskriminierung bei der Wahl hat dies nichts zu tun – im Gegenteil.
NEWS ABROAD
Rapport Conseil de l'europe
Pierre Zappelli
Pierre Zappelli
A Vienne, lors de la 124ème session du Comité des Ministres, le Secrétaire Général du Conseil de l’Europe, Thorbjørn Jagland, dans le tout premier rapport détaillé sur la situation de la démocratie, des droits de l’Homme et de l’Etat de droit en Europe a affirmé que l’Europe se voit confrontée à l’une des crises démocratiques les plus profondes depuis la Guerre froide.
«Kopftuch-Verfahren» werden ohne Mitwirkung von Vizepräsident Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof entschieden
Juria
Juria
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat beschlossen, dass über zwei Verfassungsbeschwerden zum sog. Kopftuch-Verbot in nordrhein-westfälischen Schulen wegen Besorgnis der Befangenheit ohne Mitwirkung von Vizepräsident Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof zu entscheiden ist. Massstab hierfür ist nicht, ob ein Richter tatsächlich «parteilich» oder «befangen» ist, sondern ob ein Verfahrensbeteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln. Eine solche Konstellation liegt hier vor, denn in einer Gesamtbetrachtung kommt Vizepräsident Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof gleichsam eine Art Urheberschaft für das zu beurteilende Rechtskonzept zu. Nach den gesetzlichen Bestimmungen wird ein Richter bzw. eine Richterin des Zweiten Senats durch Los als Vertretung bestimmt.