Liebe Leserinnen und Leser
Einmal mehr erweitert die Richterzeitung mit der vorliegenden Ausgabe den schweizerischen Horizont. Sie berichtet über die Aktualitäten aus der internationalen und der europäischen Richtervereinigung. Unter den behandelten Themen hat die Unabhängigkeit der Judikative zu lebhaften Debatten geführt. Es wurde auch entschieden, die grundlegenden und unverzichtbaren Kriterien für ein unabhängiges Justizsystem festzuhalten.
Vor diesem Hintergrund ist der Artikel von Katrin Marti über die Gerichtskommission der Vereinigten Bundesversammlung sehr lesenswert. Anhand welcher Kriterien werden die Richter für die eidgenössischen Gerichte ausgewählt? Welche Rolle spielt bei dieser Auswahl die Parteizugehörigkeit der Kandidaten? Die Kontakte zwischen der Kommission und den parlamentarischen Gruppen sind effektiv begrenzt. Die Lektüre führt den Leser zur Frage, ob die höchsten Gerichte in der Schweiz tatsächlich unabhängig sind.
Ebenfalls unter dem Blickwinkel der Unabhängigkeit kommt Eric Mazurczak zum Schluss, dass die Bestellung des Spruchkörpers am Zürcher Handelsgericht den Anforderungen von EMRK und Bundesverfassung standhält – namentlich der Garantie einer unabhängigen und unparteiischen Gerichtsbarkeit.
„Warum Juristen keine klaren Antworten liefern“ – mit diesem etwas provokativen Titel lenkt Dieter Gessler unsere Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass die allgemein gehaltenen und oft unklaren Gesetze die Arbeit der Richter kaum erleichtern. In ihrer Funktion müssen sich Richter, die auch über eigene Werte und Lebenserfahrung verfügen, unabhängig gegenüber den Parteien und ihren Interessen sowie gegenüber Dritten zeigen. Ihre Entscheidungen werden immer durch den politischen und historischen Kontext beeinflusst, glücklicherweise aber nur selten durch parteiische Erwägungen. Der Autor verdeutlicht seine Argumentation mit einigen konkreten Beispielen.
André Kuhn und Stefan Lanquillon präsentieren konkretere Aspekte der judikativen Tätigkeit. André Kuhn beleuchtet die objektiven Faktoren, welche die Festsetzung der Strafe beeinflussen und unterstreicht dabei den Handlungsspielraum, welcher den Richtern für eine individuelle Strafzumessung verbleibt. Bei der Ausübung des Ermessensspielraums bleiben die Richter in aller Regel menschliche Wesen, welche den üblichen psychologischen Prozessen unterworfen sind. Stefan Lanquillon beschreibt in Fortführung seiner Replik in der NZZ auf den ebenfalls dort erschienenen Artikel von Mario Gmür die in der psychiatrischen Gutachtertätigkeit verwendeten Methoden zur Prognostizierung von Rückfallrisiken.
Wie gewohnt finden Sie in dieser Ausgabe zudem aktuelle Berichte aus den Kantonen und dem Ausland.
Anne Colliard, Regina Kiener, Stephan Gass, Hans-Jakob Mosimann und Pierre Zappelli gratulieren ihrem Redaktionskollegen Thomas Stadelmann ganz herzlich zur Wahl ans Bundesgericht. Für die Richterzeitung ist es sehr wertvoll, einen Vertreter des höchsten Gerichts im Redaktionsteam zu haben.
Wir hoffen, dass die vorliegende Ausgabe der Richterzeitung zur vertieften Auseinandersetzung mit Themen der Justiz anregt und wünschen Ihnen spannende Lektüre.
Anne Colliard, Stephan Gass, Regina Kiener, Hans-Jakob Mosimann, Thomas Stadelmann, Pierre Zappelli