Liebe Leserinnen und Leser
Eine Partei hat eigentlich Recht, aber weil ihr der gehörige Beweis dafür fehlt, muss das Gericht gegen sie entscheiden – das bringt die Richter in ein moralisches Dilemma. Gleiches gilt, wenn beide Parteien berechtigte, aber faktisch nicht teilbare Ansprüche haben, wie etwa das Sorgerecht streitender Eltern. Oder: Der Richter muss eine Norm anwenden, obwohl diese seiner eigenen Werthaltung widerspricht. Wie Richterinnen und Richter in der Schweiz solche und weitere Moraldilemmata erleben und bewältigen, hat die Psychologin Revital Ludewig-Kedmi anhand einer breit angelegten Befragung untersucht. Ihr Beitrag in dieser Ausgabe der Richterzeitung («Von der Normalität der richterlichen Arbeitsbelastung») fasst die ersten Resultate des Projekts zusammen und entwirft mit einer Typologie der verschiedenen Konfliktsituationen einen plausiblen theoretischen Rahmen für deren Verständnis. Die erhobenen Daten zeigen, dass der «Richter Herkules» nicht nur in der Theorie Ronald Dworkins anzutreffen ist, sondern mitunter auch im hiesigen Alltag – und sogar darüber hinaus, nämlich wenn die Entscheidungslast auch in der Freizeit nicht weicht.
Eine von mehreren Strategien, Dilemmata zu bewältigen, ist das Bestreben, die Parteien zu einer Verständigung zu bewegen, im Rahmen eines Vergleichs oder – neueren Datums und mit anderer Methode – einer Mediation. Der Beitrag von Rechtsanwalt Peter Bösch («Gericht und Mediation») erläutert kurz und informativ Merkmale und Grundbegriffe der Mediation, ihre prozessrechtliche Positionierung und bisher gewonnene Erfahrungen. Der Autor plädiert dafür, dieses Instrument in geeigneter Weise vermehrt einzusetzen. Dieser Standpunkt reizt möglicherweise aus richterlicher Optik zum Widerspruch, er ist jedoch interessant begründet. Ebenfalls in dieser Ausgabe stellt Pierre Zappelli die Vereinigung Gemme-Suisse (Association suisse des magistrats en faveur de la médiation) vor.
Schliesslich sei auf den Beitrag «Droits des langues en matière judiciaire» von Alexandre Papaux, Kantonsrichter in Freiburg, hingewiesen. Er behandelt die Sprachenfrage im Prozess mit wissenschaftlicher Präzision, indem er die Rechtslage in den mehrsprachigen Kantonen Wallis, Freiburg, Bern und Graubünden untersucht, dies unter Einbezug grundrechtlicher Überlegungen und ausländischer Parallelen, einschliesslich der Zusammensetzung der Gerichte sowie der sprachlichen Kompetenzen der Richterinnen und Richter.
Das Redaktionsteam: Anne Colliard, Stephan Gass, Regina Kiener, Hansjakob Mosimann, Thomas Stadelmann, Pierre Zappelli