Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Wie kann die Einheitlichkeit der Rechtsprechung, grundlegende Voraussetzung einer kohärenten Rechtsordnung, garantiert und die richterliche Unabhängigkeit, grundlegendes Element eines jeden Rechtsstaats, respektiert werden? Dieser Frage geht Anna-Barbara Adank-Schärer in ihrem Beitrag nach. Im Rahmen dieser CAS-Arbeit an der Richterakademie beschreibt die Autorin die Koordinations-Funktion des Gerichtspräsidenten und seines Sekretärs bezüglich der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Sie untersucht dabei den Workflow der Akten von der Zuweisung bis zur Publikation der Urteile.
Die Ausübung staatlicher Macht ist nur soweit legitim, als sie öffentlicher Infragestellung und Kritik zugänglich ist. Indem die Gerichte Urteile erlassen, die Verbindlichkeit beanspruchen und die zwangsweise durchgesetzt werden können, üben sie Macht aus. EMRK, UNO-Pakt II und die Bundesverfassung postulieren die Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlung und Urteilsverkündung (sog. Öffentlichkeitsprinzip). Die beiden Bereiche sind zwar nach dem Wortlaut ohne Differenzierung öffentlich, weisen aber in verschiedener Hinsicht strukturelle Unterschiede auf. Barbara Brodmann untersucht den Teilgehalt der öffentlichen Urteilsverkündung im Allgemeinen und im Speziellen deren Umsetzung durch das Ober- und das Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden.
Checks & Balances schaffen Vertrauen in die Justiz als dritte Staatsgewalt. Wie weit können aber die Medien die öffentliche Wahrnehmung der Rechtsprechung beeinflussen? Und könnten im digitalisierten Zeitalter Computer allenfalls auch Richterinnen und Richter ersetzen? Solche Fragen behandelt der Beitrag Das Vertrauen der Schweizer Bevölkerung in die Gerichtsbarkeit. Die Autorin, Anne Mirjam Schneuwly, fragt sich zum Schluss, ob und inwieweit algorithmisch aufbereitete Datenbanken tatsächlich auch gerechtere Urteile ermöglichen – und verweist auf die Zukunft, die das erst noch erweisen müsse.
Die Gerichte sprechen Recht, sie stellen die dritte Gewalt im Staat dar. Und die Medien sorgen dafür, dass diese Arbeit in der Bevölkerung wahrgenommen, verstanden und akzeptiert wird. Öffentlichkeit und Justiz stehen in einem komplementären Spannungsfeld. Die Rechtsanwältin Mascha Santschi und die Journalistin Brigitte Hürlimann diskutieren dialogisch dieses Spannungsfeld.
Die Begrenztheit der zivilrechtlichen Verhandlungsmaxime («maxime des débats») zeigt sich, so der Autor Lorenz Cloux in seinem Beitrag (Les limites de la maxime des débats), wenn der Richter oder die Richterin einerseits Behauptungen der Parteien nicht berücksichtigt und andererseits das berücksichtigt, was sie nicht behaupten.
Alt-Bundesrichter Niccolò Raselli behandelt in seinem Aufsatz das System der Präjudizien im kontinentalen Rechtskreis, wo an sich das Gesetzesrecht massgebend ist. Jedoch kommt auch dieses System nicht ohne Präjudizien aus. Das ZGB liefert dafür methodologische Anweisungen. Präjudizien sind zwar nicht streng verbindlich, aber auch nicht unbeachtlich. Die Formulierung von Präjudizien ist nicht weniger anspruchsvoll als der Erlass von Gesetzen.
Sind Mandatsabgaben eine harmlose helvetische Eigenheit oder eine Gefahr für die richterliche Unabhängigkeit? Fragen rund um die nicht unproblematischen Beiträge von Richterinnen und Richtern an politische Parteien diskutierten Ständerat Andrea Caroni und Verwaltungsrichter Giuliano Racioppi unter der Moderation von Sozialversicherungsrichter Hans-Jakob Mosimann am Tag der Richterinnen vom 14./15. November 2019 in Luzern.
Mit dem provokanten Titel Die Richter und ihre Henker referierte die langjährige Rechtsanwältin und frühere Präsidentin des Schweizerischen Anwaltsverbandes, Eva Saluz, ebenfalls am Tag der Richterinnen und Richter. Sie wies auf die Herausforderungen hin, denen Richterinnen und Richter gegenüberstehen, und plädierte dezidiert für deren Unabhängigkeit.
In der Kolumne des SVR bezeichnet Nora Lichti Aschwanden die Schweizerische Vereinigung der Richterinnen und Richter als eine starke Stimme zugunsten der Unabhängigkeit der Justiz. Sie verweist auf die Begrüssungsansprache anlässlich des Festaktes zum 50-jährigen Jubiläum der Schweizerischen Richtervereinigung (SVR-ASM). Deren Präsident, Prof. Dr. Patrick Guidon, bezeichnete darin die SVR-ASM als die Stimme im Dienste einer unabhängigen Justiz, die es in Zeiten zunehmender und vielfältiger Druckversuche auf die Justiz braucht. Im Weitern erwähnt Nora Lichti auch die Festansprache von Mag. iur. Sabine Matejka, der Präsidentin der Vereinigung der Österreichischen Richterinnen und Richter, die ebenfalls die Bedeutung der Richtervereinigungen hervorhob. Deren Aufgabe sei es, neben den Interessen der Mitglieder, insbesondere auch die Rechtstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Rechtsprechung zu verteidigen.
Ein Statement of the President of the European Association of Judges umschreibt in prägnanter Weise die dramatisch gravierende rechtstaatliche Entwicklung der richterlichen Unabhängigkeit in der Türkei, in Polen, und Bulgarien im vergangenen Jahr. Auch zu Beginn dieses Jahres sind Verbesserungen nicht in Sicht, bzw. setzen sich die Angriffe auf die Justiz fort. Das Statement weist auf die gröbsten Verletzungen der richterlichen Unabhängigkeit hin, die in den genannten Staaten stattfanden. Weitere schwerwiegende Eingriffe sind gegenwärtig auch in anderen europäischen Staaten feststellbar (Ungarn, Portugal, Griechenland…).
Thomas Stadelmann fasst den Compliance Report Schweiz der GRECO (Group of States against Corruption) zusammen. Die GRECO wurde 1999 durch den Europarat eingesetzt, um die Regelbefolgung betreffend die Anti-Korruptionsstandards Europarat-Mitgliedsstaaten zu überprüfen. Im Rahmen der vierten Evaluationsrunde befasste sich die Staatengruppe gegen die Korruption (GRECO) mit der Prävention von Korruption bei Mitgliedern von Parlamenten, Gerichten und Staatsanwaltschaften. An ihrer 82. Vollversammlung in Strassburg (18.–22. März 2019) verabschiedete die GRECO den Compliance Report betreffend die Schweiz. Der Beitrag behandelt diesen Bericht, soweit die Justiz betroffen ist. Aus den Feststellungen ergibt sich, dass die Schweiz den Empfehlungen der GRECO nicht nachgekommen ist. Lediglich in einem Fall setzte sie teilweise die Empfehlungen um.
In Ihrem Beitrag Von Ibiza, dem stillen Tod und dem Vertrauen in die Justiz zeigt unsere österreichische Korrespondentin, Richterin Yvonne Summer, auf, wie sehr die österreichische Justiz in den vergangenen Monaten durch jahrelange Einsparungen so unter Druck geraten ist, dass sie jetzt an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gebracht hat. Mit den Worten verschiedener Experten: die Justiz steht vor einem drohenden «stillen Tod» oder einem «Multiorganversagen». Zudem wurde ihr quasi von höchster Stelle vorgeworfen, parteipolitisch zu agieren. Wie ist es nun wirklich um die österreichische Justiz und um das Vertrauen in sie bestellt?
Ein Update der Bibliographie zur richterlichen Unabhängigkeit und die Venice Commission Observatory zur weltweiten Verfassungsgerichtsbarkeit 2020/1 runden diese vielfältige Ausgabe ab.
Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre
Stephan Gass, Sonia Giamboni, Andreas Lienhard, Hans-Jakob Mosimann, Annie Rochat Pauchard, Thomas Stadelmann
Ein Nachtrag in eigener Sache: Mit grosser Freude – und auch etwas Stolz – dürfen wir ein weiteres Mal die Verleihung der Ehrendoktorwürde an eines unserer Redaktionsmitglieder kundgeben. So hat die Universität Neuchâtel die Verleihung des Ehrendoktors an unsere Co-Redakteurin Annie Rochat Pauchard bekannt geben, die sich « pour son parcours de pionnière, ses accomplissements remarquables et sa connaissance hors norme du droit de la TVA, tant dans la magistrature que dans l’administration et le secteur privé » verdient gemacht hat. Wir gratulieren Annie ganz herzlich.
Stephan Gass, Sonia Giamboni, Andreas Lienhard, Hans-Jakob Mosimann, Thomas Stadelmann