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Liebe Leserin, lieber Leser


Die Unabhängigkeit der Justiz bleibt ein sensibles Thema, wie mehrere Beiträge in dieser Ausgabe zeigen. Pascal Mahon veranschaulicht in seinem Beitrag «Les tribunaux dans la nouvelle Constitution fédérale et le rôle du juge, entre indépendance de la justice, État de droit et démocratie» die nach wie vor bestehenden Herausforderungen bei der Bestimmung der Rolle des Richters, insbesondere im Kontext der Gewaltenteilung. Er beleuchtet die immer noch offenen Baustellen einer unvollendeten Justizreform und geht auf die teils emotionalen Reaktionen auf das Urteil des EGMR im Fall Verein KlimaSeniorinnen Schweiz und andere gegen die Schweiz ein. Aus seiner Sicht ist eine vertiefte Auseinandersetzung über die Rolle der Justiz und des Richters im 21. Jahrhundert in einem demokratischen und liberalen Staat heute unerlässlich. Die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz standen auch im Mittelpunkt der Rede von Bundesrat Beat Jans am Richtertag am 22. November in Luzern (Rubrik Forum). Wer über die Landesgrenzen hinausblicken und die Auswirkungen der Wahlkampffinanzierung auf die Unabhängigkeit der Richter sowie die Funktionsweise der Justiz in den USA besser verstehen möchte, dem sei das fesselnde und lehrreiche Werk von Michael S. Kang und Joanna M. Shepherd, Free to Judge: The Power of Campaign Money in Judicial Elections, empfohlen. Thomas Stadelmann rezensiert es in unserer Rubrik Literature.

Die Unabhängigkeit der Justiz ist ein zentraler Wert – doch was geschieht, wenn Richter Fehlverhalten zeigen? Die Geschäftsprüfungskommissionen des Parlaments sehen die Notwendigkeit, ein Disziplinarsystem einzuführen, und haben dazu eine parlamentarische Initiative eingereicht («Initiative 25.401 vom 23. Januar 2025 – Eidgenössische Gerichte: Disziplinarsystem einführen, um das Vertrauen in diese Institutionen zu stärken», siehe Rubrik News CH). Die Initiative sieht insbesondere die Schaffung eines Justizgerichtes vor, das für Disziplinarangelegenheiten zuständig sein soll. In diesem Zusammenhang untersucht Christoph Raess in seinem Beitrag «Verfassungsrechtliche Grundlagen eines eidgenössischen Justizgerichts», ob Art. 191a Abs. 3 BV eine hinreichende verfassungsrechtliche Grundlage für die Einrichtung eines solchen Organs darstellt.

Die fortschreitende Digitalisierung der Gesellschaft stellt auch die Justiz vor neue Herausforderungen. Angesichts der rasanten Verbreitung künstlicher Intelligenz hat der Bundesrat am 12. Februar einen Bericht veröffentlicht, der eine Bestandsaufnahme der KI-Regulierung vornimmt. Daniel Kettiger analysiert in seinem Beitrag «Auslegeordnung zur KI-Regulierung in der Schweiz: Und die Justiz?» den Inhalt dieses Berichts und bewertet ihn aus der Perspektive der Dritten Gewalt. Die Frage, wie das Rechtssystem künstliche Intelligenz in den gerichtlichen Entscheidungsprozess – insbesondere im Zivilrecht – integrieren kann, steht im Mittelpunkt der Arbeit von Dorine Testut («L’émergence de l’IA dans le prononcé de décisions civiles»). Auf einer anderen Ebene hat eine Studie der Universität Bern im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms (NFP) 77 «Digitale Transformation» die Anonymisierung von Gerichtsentscheidungen interdisziplinär und transdisziplinär untersucht. In ihrem Beitrag «Open Justice vs. Privacy: Ergebnisse und Empfehlungen» fassen Daniel Kettiger, Andreas Lienhard, Thomas Myrach, Matthias Stürmer, Magda Chodup und Joel Niklaus die wichtigsten Forschungsergebnisse und daraus resultierenden Empfehlungen zusammen. Schliesslich wird das bevorstehende Inkrafttreten der ersten Teile des BEKJ die Arbeitsweise der Anwaltschaft und der Justiz grundlegend verändern, da die elektronische Kommunikation künftig verpflichtend wird. Daniel Brugger stellt in seinem Beitrag «Onlinekommentar zum BEKJ» ein frei zugängliches Kommentierungsprojekt vor, das technische Fragen verständlich aufbereitet und auch juristischen Laien einen einfachen Zugang ermöglichen soll.

Die Öffentlichkeit der Gerichte betrifft auch die Strafbescheide der Bundesbehörden, die für die Anwendung des Verwaltungsstrafrechts zuständig sind. Diese Gesetzgebung ist weitgehend unbekannt und blieb in vielerlei Hinsicht seit ihrer Verabschiedung in den 1970er Jahren unverändert. Jérôme Gurtner zeigt dies in seinem Beitrag «La publicité des prononcés en droit pénal administratif» auf. Das Potenzial der Mediation zur Entlastung der Schweizer Gerichte untersucht Lorenzo Egloff in seinem Artikel «La médiation dans les tribunaux : un outil managérial à disposition des juges pour lutter contre la surcharge ?». In der SVR-Kolumne ruft Nora Lichti Aschwanden zu kurzen und prägnanten juristischen Abhandlungen auf («Keep it short!»).

Zum Schluss möchten wir Sie insbesondere auf die Rubrik Associations aufmerksam machen, die einen Aufruf zur Einreichung von Beiträgen für die nächste Jahreskonferenz der European Group for Public Administration (EGPA/GEAP) enthält, die vom 26. bis 28. August 2025 in Glasgow stattfinden wird.

Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre!

Stephan Gass, Sonia Giamboni, Andreas Lienhard, Hans-Jakob Mosimann, Annie Rochat Pauchard, Thomas Stadelmann

Science
Christoph Raess
Abstract

Besteht eine verfassungsrechtliche Grundlage für ein eidgenössisches Justizgericht? Dieser Frage widmet sich die vorliegende Untersuchung. Den Hauptteil der Untersuchung bildet eine ausführliche Auslegung von Art. 191a Abs. 3 der Bundesverfassung. Die Untersuchung kommt dabei zum Schluss, dass Art. 191a Abs. 3 BV als Grundlage für ein eidgenössisches Justizgericht infrage kommt. Je nach konkreter Ausgestaltung des Justizgerichts sowie aus systematischen Gründen ist eine explizite Verfassungsgrundlage für ein Verfassungsgericht jedoch erforderlich und sinnvoll.

Daniel Kettiger
Andreas Lienhard
Thomas Myrach
Matthias Stürmer
Magda Chodup
Joel Niklaus
Abstract

Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms (NFP) 77 «Digitale Transformation» befasste sich das Forschungsprojekt der Universität Bern «Open Justice vs. Privacy» interdisziplinär und transdisziplinär mit Fragen der Anonymisierung von Gerichtsurteilen. Dieser Beitrag basiert auf dem Abschlussbericht des Projektes, in welchem die Forschungsergebnisse zusammengefasst werden. Im Anschluss an die rechtswissenschaftlichen, die informatikwissenschaftlichen und die verwaltungswissenschaftlichen Erkenntnisse werden die daraus abgeleiteten Empfehlungen an die Gerichtspraxis und Politik präsentiert und erläutert.

Jérôme Gurtner
Abstract

Souvent associée à tort aux seuls domaines du droit pénal et du droit civil, la publicité de la justice s’applique également au droit pénal administratif. Ce dernier domaine est peut-être un peu moins connu, mais il n’en est pas moins important dans la pratique. Cette contribution, élaborée dans le cadre du CAS en magistrature pour les années 2023–2024, explore un sujet rarement abordé dans la doctrine : celui de la publicité des prononcés en droit pénal administratif.

Lorenzo Egloff
Abstract

Die vorliegende Studie untersucht das Entlastungspotenzial der Mediation für die Schweizer Gerichte. Dort wo sie praktiziert wird, erzielt die Mediation gute Ergebnisse. Kulturelle Hindernisse verhindern jedoch ihre breitere Anwendung. Eine bessere Sensibilisierung und Ausbildung der betroffenen Akteure für die Mediation scheint unerlässlich, um eine Kultur der aussergerichtlichen Streitbeilegung zu fördern und zur Verringerung des Streitvolumens beizutragen, die chronische Überlastung vieler Gerichtsorganisationen zu bekämpfen und schliesslich die Rechte der Bürgerinnen und Bürger gemäss Art. 6 EMRK zu wahren.

Forum
jcr:4ed93528-77ad-4e8d-94da-10a546a72c00
Pascal Mahon
Abstract

La contribution propose un bilan de la place de la justice dans la nouvelle Constitution fédérale, qui fête ses 25 ans. Elle explore en outre, dans une perspective historico-comparatiste, le rôle de la justice aujourd’hui, à partir de ce qu’il est convenu d’appeler la « montée en puissance des juges » depuis le 18e siècle, et des débats que celle-ci provoque dans la plupart des pays. Les critiques et les réactions virulentes suscitées en Suisse par l’arrêt KlimaSeniorinnen illustrent ce débat et les difficultés à situer le rôle de la justice et des juges au 21e siècle, dans un État de droit libéral et démocratique.

Dorine Testut
Abstract

L’intelligence artificielle prend une place toujours plus importante, que ce soit dans l’actualité ou dans la vie quotidienne des gens. Elle bouleverse les méthodes d’apprentissage, les modes de vie ou encore le fonctionnement de nombreuses industries. Le droit n’est pas épargné par ce phénomène et doit donc s’adapter. Nous tenterons ici d’examiner comment le système juridique intègre l’intelligence artificielle dans le processus des décisions judiciaires et plus particulièrement en matière civile.

Kolumne SVR
Nora Lichti Aschwanden
Associations
Hannah Berger
Abstract

The Permanent Study Group XVIII on Justice and Court Administration invites submissions to the upcoming EGPA Annual Conference in Glasgow, Scotland, on 26-29 August 2025, and welcomes papers addressing the administration and management of justice.

News CH
Daniel Kettiger
Abstract

Der Bundesrat hat am 12. Februar 2025 seine Auslegeordnung zur KI-Regulierung veröffentlicht. Dieser Beitrag stellt diese Auslegeordnung inhaltlich vor und würdigt sie aus der Sicht der Justiz.

Daniel Brugger
Abstract

Der Verein Onlinekommentar lanciert auf seiner gemeinnützigen Plattform für Open-Access-Kommentare in der Schweiz einen neuen Kommentar zum Bundesgesetz über die Plattformen für die elektronische Kommunikation (BEKJ).

Literature
Juria
Abstract

Eine Gesamtübersicht der Bibliografie finden Sie auf: https://sifj.ch/dokumentation/bibliography/