Richterzeitung Justice - Justiz - Giustizia 2023/4
E-Mail VersionLiebe Leserinnen und Leser,
Erkenntnisse aus der Entscheidungspsychologie zeigen, dass das Denken von Richterpersonen durch das Bedürfnis gesteuert wird, auf der Grundlage eines kohärenten bzw. stimmigen Narrativs zu entscheiden. In ihrem Beitrag beleuchtet Fiona Krummenacher die Bedeutung von Kohärenz und zeigt Gefahren auf, die zu Fehlern in der richterlichen Entscheid(find)ung führen können («Der Entscheid(find)ungsprozess des Strafrichters – Die Rolle von Kohärenz und Ursachen von Fehlbeurteilungen»). Die Autorin geht der Frage nach, inwiefern strafprozessuale Grundsätze dazu beitragen, den Einfluss von Fehlerquellen auf den Entscheid(find)ungsprozess zu verringern. Sie diskutiert auch mögliche Massnahmen zur Vermeidung von Fehlbeurteilungen.
In der heutigen Mediengesellschaft gehören «Mediengewitter» mittlerweile zum Alltag. Von dieser Entwicklung bleibt auch die Justiz nicht verschont. Ist Letztere im Normalfall eher zurückhaltend in der Öffentlichkeitsarbeit, ist sie dennoch gehalten, «in stürmischen Phasen aktiv das Kommunikationssteuerrad zu übernehmen». So beginnt der Beitrag von Alberto Fabbri, Friedo Breitenfeldt und Rafael Schoch («Ein Gericht im Mediengewitter – Tatsächliche und rechtliche Herausforderungen in der Krisenkommunikation»). Die Autoren versuchen verschiedene Konstellationen einzuordnen, die sich zu einer medial aufgeladenen Skandalisierung für betroffene Personen oder Institutionen verdichten können. Sie bewerten die Öffentlichkeitsarbeit der Justiz im heutigen Medienumfeld, beschreiben die rechtlichen Rahmenbedingungen und diskutieren mögliche Rechtsbehelfe der Betroffenen. Der Beitrag mündet in Ausführungen zu den wichtigsten Grundsätzen und Handlungsempfehlungen in der (Justiz-)Kommunikation in Krisensituationen.
Der «juge assesseur», auch als «juge non professionnel» oder «juge laïc» bezeichnet, also der Laienrichter, ist eine unbekannte, oft auch verkannte, aber unentbehrliche Institution in der schweizerischen Gerichtslandschaft. Zu diesem Schluss gelangt Margaux Marmy in ihrem Beitrag «La figure du/de la juge assesseur-e en Suisse». Laienrichter unterstützten die Berufsrichter mit beruflichem oder technischem Fachwissen, einer besonderen politischen Sensibilität oder sie vertreten einfach die (nicht juristisch geschulte) Zivilgesellschaft. Der vorliegende Beitrag vergleicht die Bedingungen, unter denen Laienrichter und Laienrichterinnen in der Schweiz, insbesondere im Kanton Genf, tätig sind, und skizziert allgemeine Richtlinien sowohl für Gerichte, die mit Laienrichterinnen und Laienrichtern arbeiten, als auch für die Laienrichter/innen selbst. Schliesslich beschreibt und hinterfragt der vorliegende Beitrag die Entwicklung dieses Amtes in der Schweiz.
Silja Tolusso untersucht das Spannungsfeld zwischen Unmittelbarkeit und Opferschutz («Das Spannungsfeld zwischen Unmittelbarkeit und Opferschutz»). Die Strafgerichte sind unter anderem gehalten, die im Vorverfahren ordnungsgemäss abgenommenen Beweise erneut zu erheben, sofern die unmittelbare Kenntnis des Beweismittels für die Urteilsfällung notwendig erscheint. Gerade in Fällen, wie etwa in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen, kollidiert das Unmittelbarkeitsprinzip jedoch oft mit dem Schutz des Opfers. Die Autorin hebt dieses Spannungsfeld hervor und hinterfragt den Nutzen unmittelbarer Aussagen von Opfern vor Gericht.
Im öffentlichen Beschaffungsrecht trägt der Grundsatz der Vertraulichkeit von Angeboten dazu bei, einen wirksamen Wettbewerb zwischen den Anbietern zu gewährleisten. Im Rahmen des Prozesses kollidiert dieser Grundsatz jedoch in der Regel mit bestimmten Verfahrensgarantien des Beschwerdeführers. Der Justizbehörde obliegt es, den Schutz vertraulicher Informationen und die Achtung der verschiedenen Facetten des Anspruchs auf rechtliches Gehör miteinander in Einklang zu bringen – eine nicht ganz einfache Aufgabe. Der vorliegende Beitrag von Guerric Riedi («La confidentialité des offres dans le procès en droit des marchés publics») beleuchtet diese Problematik, indem er die Mittel aufzeigt, die der Justizbehörde zur Verfügung stehen, um ihre Aufgaben bestmöglich zu erfüllen.
Catherine Reiter («Disziplinarrecht für Richterinnen und Richter: Quo vadis?» sieht die Justiz «zunehmend von personenbezogenen Schlagzeilen betroffen, die durch Konflikte oder (mutmassliche) Disziplinarfehler, oft eine Kombination, ausgelöst werden». Angesichts dieser Medienpräsenz und der Kritik des richterlichen Disziplinarwesens, insbesondere der «Group of States against Corruption (GRECO)» stellt sich die Frage nach der Einführung bzw. Anpassung der richterlichen Disziplinarwesen in der Schweiz. Der Beitrag nimmt sich der aus staatspolitischer Sicht bedeutenden und heiklen Fragen an und legt – nach Darlegung der Grundlagen und einer Übersicht über den Status quo – den Fokus auf die Disziplinarzuständigkeit und das Ansehen der Justiz.
Im Forumsbeitrag («Zwischen Diskretion und Dialog – Herausforderungen und Lösungen für die Justizkommunikation in der «Post-Digitalisierung») befasst sich Daniel Hardegger mit der Kommunikation zwischen Richterinnen und Richtern und der Öffentlichkeit bzw. den Medien. Dabei verhielten sich diese zurückhaltend. Gute Gründe für die Zurückhaltung gebe es durchaus, so etwa den Schutz des Amtsgeheimnisses und die Integrität der Verfahren. Der Autor fragt sich aber, ob aufgrund der gesellschaftlichen, medialen und technologischen Veränderungen die Aufgabe der «Justizkommunikation» und die Rolle von Richterinnen und Richtern in der Justizkommunikation «nicht neu gedacht werden müsse». Wenn sich Richterinnen und Richter nicht an den Debatten in Öffentlichkeit und Medien beteiligen, werden diese einfach ohne deren Expertise geführt. Der Autor verweist auch auf die Integration von künstlicher Intelligenz in die Justiz, welche auch das Rollenverständnis von Richter und Richterinnen verändern werde.
In der Kolumne der Schweizerischen Vereinigung der Richterinnen und Richter (SVR) befasst sich Richterin Leonora Marti-Schreier mit der Frage, woran Kinder Richterinnen und Richter erinnern können. Sie kommt zu Schluss, «dass es sich (auch) für Richterinnen und Richter in unsere bisweilen stark intellektuell geprägte Tätigkeit lohnen kann, zwischendurch einen Schritt zurückzutreten und auf das Wesen und die Einfachheit von Kindern zu schauen. Diese Perspektive kann die Justiz bereichern».
Neben der üblichen Berichterstattung des Venice Commission Observatory (Medienberichterstattungen über weltweite Verfassungsgerichtsbarkeit, Update 26) und der neuesten Aktualisierung der Bibliografie zum Richterrecht (Update 63) möchten wir Ihre Aufmerksamkeit auch auf die Rubrik «News CH» lenken, wo das dritte Update zu Parlament aktuell / Parlament actualités / Notizie dal Parlamento erscheint sowie die Aufzeichnungen des SIfJ-Webinars «Judikative im Dialog» und der 3. Schweizer Tagung Judikative.
Unter der Rubrik «News Abroad» berichtet Leonie Grob über die European Group for Public Administration (EGPA), deren Jahreskonferenz 2023 in Zagreb (Kroatien) stattfand. Deren internationale und interdisziplinäre Arbeitsgruppe («Permanent Study Group XVIII ; Justice and Court Administration») widmete sich diversen Themen im Bereich der Justizverwaltung.
Wir wünschen Ihnen eine erspriessliche Lektüre.
Arthur Brunner, Stephan Gass, Sonia Giamboni, Andreas Lienhard, Hans-Jakob Mosimann, Annie Rochat Pauchard, Thomas Stadelmann