Liebe Leserin, lieber Leser
Im letzten November ist die «Justiz-Initiative» von Volk und Ständen deutlich verworfen worden. Den (politischen) Diskussionen darum, wie die richterliche Unabhängigkeit im schweizerischen Justizsystem gewährleistet bzw. gestärkt werden kann, hat dies erfreulicherweise keinen Abbruch getan. Im Fokus des Interesses steht weiterhin das Richter(aus)wahlverfahren. In dieser Hinsicht hat die ständerätliche Kommission für Rechtsfragen (noch vor der Abstimmung über die «Justiz-Initiative») eine parlamentarische Initiative lanciert, gemäss welcher die Rechtsordnung «dahingehend angepasst werden [soll], dass es der Gerichtskommission der Vereinigten Bundesversammlung inskünftig möglich ist, einen Fachbeirat zur Begleitung ihrer Auswahlverfahren einzusetzen und beizuziehen» (Parlamentarische Initiative 21.452 «Fachbeirat für die Auswahlverfahren der Gerichtskommission»); nachdem die Initiative von der nationalrätlichen Kommission für Rechtsfragen positiv aufgenommen worden ist, darf man auf den Erlassentwurf gespannt sein. Diskutiert werden auch weitere Aspekte der Unabhängigkeit: Nationalrat Fabio Regazzi hat eine Motion eingereicht, mit welcher der Bundesrat beauftragt werden soll, eine Gesetzesänderung vorzulegen, mit der die Aufsicht des Bundesgerichts über die erstinstanzlichen richterlichen Behörden des Bundes aufgehoben und stattdessen eine Justizkommission geschaffen wird (Motion 21.3372 «Bundesgesetz über die Justizkommission»). Alles beim Alten bleiben soll nach heutigem Stand jedenfalls auf Bundesebene bei den Mandatsabgaben. Am 15. März 2022 hat der Nationalrat der Parlamentarischen Initiative 20.468, mit welcher Nationalrat Beat Walti (FDP) für die Mitglieder der Gerichte des Bundes ein Verbot von Mandatssteuern und Parteispenden verlangt hatte, keine Folge gegeben. Etwas mehr Bewegung ist auf kantonaler Ebene auszumachen; so haben sich beispielsweise die jurassischen Richterinnen und Richter geschlossen dazu entschieden, die Mandatssteuer nicht mehr zu bezahlen.
In der vorliegenden Ausgabe der Richterzeitung beleuchtet Niccolò Raselli in seinem Beitrag «Justiz-Initiative abgeschmettert – Ende gut, alles gut?» den Stand der politischen Diskussion nach Ablehnung der «Justiz-Initiative» und benennt weiterhin bestehenden Reformbedarf; er äussert sich namentlich zum Wiederwahlsystem, zur Diskriminierung parteiungebundener Kandidaten und Kandidatinnen sowie zu den Mandatssteuern. Auf diese drei Aspekte wurde teilweise auch in den Referaten der 2. Basler Tagung «Judikative» Bezug genommen, die am 18. März 2022 unter dem Titel «Richterliche Unabhängigkeit und Gewaltenteilung in Europa und in der Schweiz: Handlungsbedarf und -möglichkeiten» durchgeführt worden ist; Ivan Gunjic gibt in seinem Bericht zur Tagung einen Überblick über die vielfältigen Referate und weist auf Denkanstösse hin, die aus den Podiumsdiskussionen mitgenommen werden können.
Spezifisch mit den Mandatsabgaben und deren Spannungsverhältnis zur richterlichen Unabhängigkeit befassen sich Hansjörg Seiler und Martin Burger, wobei die beiden Autoren sehr unterschiedliche Positionen einnehmen (vgl. hierzu auch schon Hans-Jakob Mosimann/Andrea Caroni/Giuliano Racioppi, Mandatsabgaben – Harmlose helvetische Eigenheit oder Gefahr für die richterliche Unabhängigkeit (Podiumsgespräch), in: «Justice - Justiz - Giustizia» 2020/1). Kritisch positioniert sich Martin Burger («Die Mandatsabgaben der Richterschaft im Spannungsfeld zwischen richterlicher Unabhängigkeit und politischer Begehrlichkeit»): Aus verschiedenen Gründen plädiert er für ein gesetzliches Verbot von Mandatsabgaben. Hansjörg Seiler («Bedroht die Mandatsabgabe die richterliche Unabhängigkeit») hingegen wertet die Kontroverse um die Mandatsabgaben als Stellvertreterdiskussion über die teilweise als problematisch erachtete Nähe von Richterinnen und Richtern zu den politischen Parteien und verneint, dass die Mandatsabgabe die Unabhängigkeit der Gerichtsmitglieder zusätzlich beeinträchtigen könne.
Einen anderen Aspekt des (Nähe-)Verhältnisses zwischen politischen Parteien und Richterpersonen nehmen Myriam Fankhauser, Martina Flick Witzig und Adrian Vatter auf. In ihrem Beitrag «Richterliche Parteizugehörigkeit und Rechtsprechung in Asylverfahren» kommen sie auf Grundlage einer qualitativen Analyse (most similar systems design) zum Ergebnis, dass in den Asylabteilungen des Bundesverwaltungsgerichts mitunter nahezu identische Fälle unterschiedlich entschieden und begründet werden und dies mit divergierenden Parteizugehörigkeiten der Richterinnen und Richter einhergeht. Bezüge zur richterlichen Unabhängigkeit weist auch der Bericht von Thomas Stadelmann über einen Entscheid des deutschen Bundesverfassungsgerichts auf, mit dem ein langjähriger Rechtsstreit um die Vereinbarkeit von Leistungsbeurteilungen mit der richterlichen Unabhängigkeit seinen Abschluss findet («Richterliche Unabhängigkeit und Erledigungszahlen: Abschluss eines Verfahrens in Deutschland»). Jeremias Fellmann kommentiert die neuste bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Art. 30 Abs. 1 BV.
Einen Beitrag zur laufenden Debatte um die Stärkung des kollektiven Rechtsschutzes im schweizerischen Zivilprozessrecht leistet Flavia Antonini: In «La transaction collective, un nouveau défi pour les tribunaux» befasst sie sich mit der möglichen Einführung des kollektiven Vergleichs; auf Grundlage der Botschaft vom 10. Dezember 2021 zur Änderung der Schweizerischen Zivilprozessordnung (Verbandsklage und kollektiver Vergleich) diskutiert sie namentlich die Rolle des Gerichts, das den von den Parteien ausgehandelten kollektiven Vergleich genehmigen müsste.
Einen wichtigen Beitrag zur schweizerischen Rechtsgeschichte bildet die Schriftenreihe von Urs Fasel zu Eugen Huber, dem Schöpfer des ZGB; Thomas Stadelmann rezensiert die Bände 20 und 21 dieser Schriftenreihe, welche sich mit Eugen Huber als Richter 1881–1882 bzw. 1883 befassen.
Zwei Urteilsbesprechungen runden die vorliegende Ausgabe ab. Daniel Kettiger und Andreas Lienhard kommentieren das bundesgerichtliche Urteil 1C_432/2020 vom 7. Februar 2022, das die Zuständigkeit des Generalsekretärs des Bundesstrafgerichts zum Entscheid über Fragen der Anonymisierung und Veröffentlichung von Urteilen zum Gegenstand hatte. Giuseppe Muschietti befasst sich mit dem – auch innerhalb des Gerichts sehr kontrovers – diskutierten Urteil des EGMR Communauté genevoise d’action syndicale (CGAS) c. Suisse vom 15. März 2022, in dem letztlich eine bundesrätliche Verordnung abstrakt auf ihre Vereinbarkeit mit der EMRK hin überprüft wurde.
Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre!
Arthur Brunner, Stephan Gass, Sonia Giamboni, Andreas Lienhard, Hans-Jakob Mosimann, Annie Rochat Pauchard, Thomas Stadelmann