Sehr geehrte Leserinnen und Leser
Die Internationale Richtervereinigung (International Association of Judges IAJ/Union Internationale des Magistrats UIM) hält in ihrem jüngsten Statement fest, dass das Völkerrecht alle Menschen vor Schaden schützen und allen Ländern und ihren Menschen ein Leben in Sicherheit, Wohlstand und Würde ermöglichen soll. Der Angriff Russlands auf die Ukraine untergrabe die Rechtsstaatlichkeit und bedrohe Sicherheit, Schutz, Wohlstand und Würde der dort lebenden Menschen. Die IAJ fordert daher Russland auf, das Engagement für die internationale Rechtsstaatlichkeit zu bekräftigen und die Truppen unverzüglich aus dem Hoheitsgebiet seines Nachbarlandes abzuziehen. Die Internationale Richtervereinigung zeigt sich besonders besorgt um die ukrainischen Richterinnen und Richter, die dem Land, ihren Familien und der Rechtsstaatlichkeit dienen (vgl. https://www.iaj-uim.org/iuw/wp-content/uploads/2022/02/IAJ-Statement-Russia.pdf). Diese Ausgabe der Richterzeitung beginnt daher mit einem Aufruf zu einer Solidaritätsbekundung mit der Ukraine. Der Autor dieser Solidaritätsbekundung, Ivan Gunjic, beginnt mit den Worten: «Ich war im Herbst des vergangenen Jahres in Kiew und habe dort mit den Richterinnen Inna Bilous und Inna Kalugina des Hohen Anti-Korruptionsgerichtshofs über ihre Arbeit gesprochen. Drei Monate später wurde die Ukraine von russischen Truppen überfallen…» Richterinnen und Richter setzen sich in der Ukraine für Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein, unter Gefährdung ihres Lebens und jenes ihrer Familien. Auch ihnen sollte unsere Solidarität gelten.
In seiner CAS-Abschlussarbeit «Surveillance de la justice par les conseils de la magistrature» befasst sich Samuel David mit der Justiz-Aufsicht durch sogenannte Justizräte. Während in Europa und Amerika dieses Institut seit längerer Zeit weit verbreitet ist, bestehen solche «Conseils de la magistrature» in der Schweiz nur in einzelnen, ausschliesslich französischsprachigen Kantonen. Nach einem Überblick über die theoretischen Konzepte und Unterscheidungen, die von Rechtsprechung und Lehre zur Justiz-Aufsicht entwickelt wurden, erörtert dieser Aufsatz die Hauptmerkmale der Umsetzung ebendieser Aufsicht im Rahmen der in der Schweiz eingerichteten Justizräte. Der Autor diskutiert auch wichtige damit einhergehende Herausforderungen, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Unabhängigkeit der Justiz. Die Untersuchung der Justizaufsicht in der Schweiz durch die bereits eingerichteten Justizräte zeigt, dass die Bestimmungen der administrativen Aufsicht über die Gerichte in mehreren kantonalen Gesetzen noch unklar sind. Sie übertragen dem Justizrat die administrative Aufsicht über die Gerichte, statten ihn aber nicht mit den dafür erforderlichen Mitteln aus. Der Autor meint zu Recht, dass unabhängig von der Form des Aufsichtsorgans und der Tradition, in die es eingebettet ist, in jedem Fall ausreichende Garantien für die Unabhängigkeit des Aufsichtsorgans bestehen müssen. Denn dessen Disziplinar- und Aufsichtskompetenzen machen das Aufsichtsorgan zu einem der Grundpfeiler der Unabhängigkeit der Justiz. Aus der Analyse der Justizräte lassen sich Grundsätze ableiten, mit dem Ziel, die Wirksamkeit der Aufsicht und die Gewaltenteilung zu verbessern und gleichzeitig die Tradition zu wahren, die der Justiz eine Form von «demokratischer Legitimität» verschaffen (etwa verfassungsmässige Verankerung der Struktur der Aufsicht). Grundsätzlich sollten klare Regelungen bestehen hinsichtlich der Zusammensetzung des Aufsichtsorgans, seiner Kompetenzen und Mittel. Dabei ist die führende Rolle amtierender Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte festzulegen. Diese sollten von ihren Kollegen und Kolleginnen ernannt werden. Zudem sollte der Justizrat die Kompetenz haben, Richteramts-Kandidatinnen und Kandidaten zu prüfen und verbindliche Stellungnahmen zuhanden der Wahlbehörde abzugeben oder wenigstens dem Parlament selbst Kandidaten/Kandidatinnen in der Reihenfolge seiner Präferenz vorzuschlagen. Last but not least sind die Entscheidungen des Justizrats bei einer Behörde anfechtbar, welche die Anforderungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllt, also ein unabhängiges Gericht darstellt (vgl. zum Ganzen Opinion No.10(2007) of the Consultative Council of European Judges, die auch in dieser Arbeit herangezogen wird).
Mélanie Rubin-Fügi geht in ihrem Aufsatz «Juges laïcs: aubaine ou obstacle pour la justice suisse?» der Frage nach, ob die hierzulande kantonal noch weit verbreitete Institution des Laienrichtertums noch zeitgemäss ist. Dieses kann in der Schweiz auf eine lange Tradition zurückblicken. Die Autorin prüft das Für und Wider des Laienrichtertums, dessen Niedergang sich in den letzten 20 Jahren beschleunigt hat. Sie zeigt auf, dass das System der Laienrichter, obwohl es die meisten Mängel des Geschworenengerichts beseitigt hat, heute veraltet ist und zahlreiche Nachteile für das reibungslose Funktionieren der Justiz mit sich bringt. Überlegenswert wäre – im Sinne eines Denkanstosses pro futuro – der Einsatz von Laienrichtern und Laienrichterinnen (mit entsprechenden besonderen Erfahrungen oder Kenntnissen) in der Spezialgerichtsbarkeit (etwa bei Baurekursgerichten, Steuergerichten, Arbeitsgerichten, Schiedsgerichten).
Tania Munz erörtert das Thema «Staatshaftung für mangelhafte Anonymisierung von publizierten Gerichtsurteilen». Die am Institut für öffentliches Recht der Universität Bern eingereichte Arbeit befasst sich mit der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen der Staat für eine mangelhafte Anonymisierung von publizierten Urteilen haftet. Berücksichtigt werden zudem ausgewählte Besonderheiten im kantonalen Recht sowie mögliche rechtliche Auswirkungen einer (teil-)automatisierten Anonymisierung, insbesondere im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz (KI). Zwar werden in der Schweiz Gerichtsurteile vor der Publikation im Internet grundsätzlich anonymisiert. Doch sind De-Anonymisierungen nicht ausgeschlossen und es ist zu erwarten, dass das Risiko solcher mit der fortschreitenden Digitalisierung steigt. Dabei fragt sich, welche Rechtsfolgen bestehen, wenn ein Urteil mangelhaft anonymisiert im Internet publiziert wird und deshalb Verfahrensbeteiligte identifiziert werden können. Die Autorin geht diesen spannenden Fragen nach.
Im Forumsbeitrag «Querulatorisches Verhalten in der Übersicht im Zivil-, Straf- und Verwaltungsverfahren» untersucht Stefanie Schütz-Balmer, wie Gerichte und Verwaltungsbehörden mit querulatorischen Persönlichkeiten im Zivil-, Straf- und Verwaltungsverfahren umgehen. Wie äussert sich das Querulieren vor Gericht und Behörden? Auf welche Rechtsgrundlagen stützen sich die querulierenden Personen und wer stellt das querulatorische Verhalten fest? Nach einer Definition des Begriffs «Querulant» untersucht die Autorin, in welcher Form sich querulatorisches Verhalten vor Gericht und Behörden zeigt, und erläutert schliesslich, welche prozessrechtlichen Möglichkeiten den angerufenen Gerichten und Behörden in den verschiedenen Rechtsgebieten zur Verfügung stehen.
In einem weiteren Forumsbeitrag behandelt Denise Weingart die richterliche Fürsorgepflicht im Strafverfahren. Die Strafbehörden achten in allen Verfahrensstadien die Würde der vom Verfahren betroffenen Menschen (Art. 3 Abs. 1 StPO). Alle Verfahrensbeteiligten sind gleich und gerecht zu behandeln und es ist ihnen das rechtliche Gehör zu gewähren (Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO). Mit dem Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung ist der «Fair-Trial-Grundsatz» gemeint, festgeschrieben in Art. 29 Abs. 1 BV, Art. 6 EMRK sowie Art. 14 UNO-Pakt II. Er zählt zum humanitären Kernbereich des Völkerrechts. Die hier im Fokus stehende richterliche Fürsorgepflicht bildet einen Teilaspekt des Anspruchs auf ein faires Verfahren. Die vorliegende Arbeit widmet sich dieser Thematik und zeigt anhand von Beispielen aus der Strafrechtspraxis auf, wann ein Einschreiten des Gerichts von Amtes wegen angezeigt erscheint.
In Form von zwei persönlichen Berichten über den Arbeitsalltag von Richtern am Hohen Anti-Korruptionsgerichtshof in Kiew erörtert Ivan Gunjic die Frage, wie Richten unter widrigen Bedingungen verläuft. Im September 2019 hat in der Ukraine der Hohe Anti-Korruptionsgerichtshof seine Arbeit aufgenommen. Der separate Gerichtszweig, welcher ausschliesslich Korruptionsdelikte auf höchster Ebene beurteilt, bildet ein aussergewöhnliches Arbeitsumfeld: Ernannt unter Mitwirkung internationaler Experten, sehen sich die Richter des Hohen Gerichtshofs von vielen Seiten unter Druck gesetzt. Die Arbeit hat aber auch ihren Reiz; zwei Richterinnen berichten.
Sind Humor und Justiz ein unvereinbarer Gegensatz? Nicht für Peter Noll, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht München und Mitglied des Richterkabaretts. Sein Forumsbeitrag entstammt einem am Tag der Richterinnen und Richter 2021 gehaltenen Vortrag und handelt von gelungenem und verunglücktem Humor.
Im letzten Forumsbeitrag befasst sich die ehemalige Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts und jetzige Bundesrichterin Marianne Ryter mit der Frage: «Muss, darf und kann man Richterinnen und Richter führen?» Dabei ergibt sich schnell, «dass das Thema Führen in der Justiz tendenziell eher negativ konnotiert ist». Die Gründe dafür sind verschiedenartig, je nachdem, ob man zu den Führenden oder zu den Geführten gehört.
In der SVR Kolumne befasst sich Marie-Pierre de Montmollin mit Fragen des internationalen Kinderschutzrechts. Das «Internationale Haager Richternetz» («Le Réseau international de juges de La Haye») ist Ausdruck einer internationalen Rechtsgemeinschaft, die auf gemeinsame Lösungen hinarbeitet, um die familiären Beziehungen und das Wohl der Kinder zu stärken.
Die Richterin des Landesgerichts Feldkirch Yvonne Summer berichtet über die Ernennung von Richterinnen und Richter in unserem Nachbarland Österreich. In den letzten Wochen wurden in Österreich «Sideletter» zu Regierungsprogrammen und Chat-Nachrichten bekannt, die nicht nur für grosse Unruhe und Unmut (auch) in der Justiz sorgten, sondern auch ein fragwürdiges Licht auf die Besetzungen von Leitungspositionen in der Gerichtsbarkeit warfen. Die kolportierten Interventionen von bzw. bei Politikerinnen/Politikern erwecken die schiefe Optik, dass nicht allein fachliche Eignungskriterien über Ernennungen entscheiden und dass auch die Justiz nicht vor Absprachen über Postenbesetzungen nach sachfremden Motiven und aus parteipolitischem Kalkül gefeit ist. Der Schluss liegt nahe, dass die Politik damit Einfluss auf die Arbeit der Justiz zu nehmen versucht – ein in der Schweiz nicht unbekanntes Phänomen.
Wie gewohnt erscheinen «Venice Commission Observatory» und die «Bibliografie zum Richterrecht» am Schluss dieser Ausgabe.
Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre!
Arthur Brunner, Stephan Gass, Sonia Giamboni, Andreas Lienhard, Hans-Jakob Mosimann, Annie Rochat Pauchard, Thomas Stadelmann