Liebe Leserinnen und Leser
Die Ausgabe 2015/4 von «Justice - Justiz - Giustizia» behandelt schwerpunktmässig Fragen zum Thema «externes und internes Fachwissen von Gerichten».
Wir empfehlen zu Beginn der Lektüre den Beitrag von Anja Martina Binder über «Technisches Fachwissen am Bundesverwaltungsgericht». Am Bundesverwaltungsgericht sind ausschliesslich juristisch ausgebildete Richterinnen und Richter tätig; Fachrichterinnen und -richter sind in der organisationsrechtlichen Ausgestaltung des Bundesverwaltungsgerichts keine vorgesehen. Dennoch hat das Bundesverwaltungsgericht in gewissen Bereichen die Möglichkeit, auf gerichtsinternes technisches Fachwissen zurückzugreifen. Sodann, in gewissermassen umgekehrter Perspektive, behandeln Patrick Bucher das «Fachrichtervotum im Zivilprozessrecht und in der Verwaltungsrechtspflege» und Tina Leiser die «paritätische Zusammensetzung der Schlichtungsbehörde Bern-Mittelland». Eine weitere Spezies sozusagen sind Laienrichterinnen und -richter; über ihre Perspektiven im Kanton Zürich informiert der Beitrag von Hans Schmid.
Ausgehend von der These, dass nicht nur Antworten, sondern bereits die Fragen das Ergebnis eines Denkvorganges sein müssen, untersucht Jörg Jeger, Chefarzt der MEDAS Zentralschweiz, in seinem Aufsatz die Kunst der Fragestellung bei medizinischen Gutachten. Eine präzise Fragestellung, die massgeschneidert auf den zu behandelnden Streitfall passt, gehört zu den wirksamsten Fehlerprophylaxen.
Marc Graf, Leiter Forensisch Psychiatrische Klinik der UPK Basel, untersucht in seinem Beitrag «Richter in Weiss» mögliche strafprozessuale Risiken einer «bidirektionalen Rollendiffusion». Oberflächlich betrachtet, scheinen Bedenken zur «Übermacht» der forensisch-psychiatrischen Sachverständigen durch die Einhaltung publizierter Standards überflüssig zu sein. Doch zeigen sich bei vertiefter Betrachtung gravierende Schnittstellenprobleme, welche zu inhaltlich falschen und ungerechten Urteilen führen können, insbesondere, wenn «(natur-)wissenschaftliche Evidenz zum juristischen Beweis wird».
Marianne Heer befasst sich mit aussagepsychologischen Gutachten und kommt aus strafprozessualer Sicht zu beachtenswerten, kritischen Bemerkungen. Während juristische Entscheidungsträger bei forensisch-psychiatrischen Gutachten im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte verstärkt ihr besonderes Augenmerk auf die Qualität von Gutachten legten und der Begutachtungsprozess mittlerweile praktisch unwidersprochen von strafprozessualen Regeln mitgeprägt ist, lässt sich im Zusammenhang mit aussagepsychologischen Gutachten eine derartige Entwicklung nicht beobachten. Eine entsprechende Sensibilisierung wäre angebracht.
Beate Balitzki diskutiert aus naturwissenschaftlicher Sicht den forensischen Nutzen von DNA-Profilen. Vor dreissig Jahren publizierte Alec Jeffreys die Analyse von DNA zur personenbezogenen Identifikation aus biologischen Spuren. Seither gab es in der forensischen DNA-Analytik markante Fortschritte. Immer sensitivere Methoden zur Analyse kommen zur Anwendung. Überdies wurden in den meisten europäischen Ländern die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Erstellung und Verwendung von DNA-Profilen geschaffen. So entstanden auch DNA-Datenbanken, welche die routinemässige Auswertung von Spurendaten überhaupt erst möglich gemacht haben.
«Viele Fehler in Gutachten» – Christel Salewski präsentiert eine interessante Studie der Fern-Universität Hagen zu Sachverständigen-Gutachten bei Kindeswohlgefährdung, Sorge- oder Umgangsrecht. Familiengerichte benötigen häufig entsprechende Gutachten. Die Studie wertete alle Gutachten aus, die an vier Amtsgerichten im Oberlandesgerichtsbezirk Hamm (D) in den Jahren 2010 und 2011 in Auftrag gegeben wurden – und kommt zum Schluss, dass nur eine Minderheit die fachlichen Qualitätsstandards erfüllt!
Patrick Robert-Nicoud, Richter am Bundesstrafgericht, reflektiert die nicht-juristischen Kenntnisse des Richters und kommt zur provokanten, im Titel des Beitrags bereits angedeuteten These («Le juge ignorant – réflexions sur les connaissances non juridiques»): «il y a peu de différence entre un juge méchant et un juge ignorant». Der Artikel zeigt Risiken beim Gebrauch von nicht-juristischen Begriffen in der juristischen Praxis auf.
Schliesslich wird das Schwerpunkt-Thema durch einen australischen Beitrag des Bundesrichters Toni Pagone abgerundet. Er stellt in seinem Beitrag «The Management of Expert Evidence for Use by Courts and Tribunals: Concurrent Expert Evidence» verschiedene Fragen zum «Handling» von Expertenbeweisen im Verfahren und beschreibt dieses Expertise-Management der «concurrent expert evidence». Mit der letztgenannten Methode befasste sich auch, am 58. Meeting der internationalen Richtervereinigung IAJ-UIM, die 2. Studienkommission unter dem Vorsitz von Thomas Cyr (Canada), worüber Nora Lichti Aschwanden berichtet. Dabei wurden Chancen und Schwierigkeiten der verschiedenen Rechts- bzw. Regelungssysteme deutlich. Der praktische Rechtsvergleich im richterlichen Austausch regt an, die eigenen Regelungen und Praktiken kritisch zu überdenken und Neues auszuprobieren. Die schweizerische Zivilprozessordnung lässt für die Abnahme des Expertenbeweises verschiedene Formen zu (Art. 183 ff. ZPO), so insbesondere auch die mündliche Erstattung von Gutachten, welche gerade in komplexen Fällen aber wenig zur Anwendung gelangt. Die Erfahrungen mit der Methode der «concurrent expert evidence» lassen es als sinnvoll erscheinen, die Eignung dieser Form bei der Beweisabnahme im Einzelfall vermehrt wieder in die Überlegungen miteinzubeziehen.
Im Weiteren enthält diese Ausgabe einen Beitrag von Angela Eicher und Christof Schwenkel über das vierte Meeting der Permanent Study Group «Justice and Court Administration» der European Group for Public Administration (EGPA), Reprints und anderes mehr.
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Das Redaktionsteam: Emanuela Epiney-Colombo, Stephan Gass, Regina Kiener, Hans-Jakob Mosimann, Thomas Stadelmann, Pierre Zappelli
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