Liebe Leserinnen und Leser

The Human Factor ist nicht nur ein Roman von Graham Greene, sondern auch ein passender Oberbegriff für mehrere der Referate am 4. Tag der Richterinnen und Richter, der am 6. November 2009 in Luzern stattfand, von denen drei in der vorliegenden Ausgabe von Justiz - Justice - Giustizia enthalten sind. Gemeinsam ist ihnen, dass sie das Augenmerk darauf legen, dass Rechtsprechung im wahrsten Sinne Menschenwerk ist: Richterinnen und Richter agieren und entscheiden nicht im luftleeren und wertfreien Raum, sondern sie tragen, unbewusst oder reflektiert, ihr eigenes Vorverständis (Josef Esser) an jeden Fall heran.

Dies betont insbesondere Rolf Lamprecht in seinem Beitrag Von der Subjektivität des Richtens. Lamprecht hat in Deutschland während Jahrzehnten Massstäbe gesetzt für eine kompetente und kritische Gerichtsberichterstattung, er war (so seine eigenen Worte) «Karlsruher Beobachter» und konnte «über lange Zeit die Inszenierungen der Justiz von einem Logenplatz aus verfolgen». Aus diesem reichen Fundus schöpft er und ist deshalb um Beispiele nicht verlegen, etwa die These der «Subjektivität und Relativität des Rechts» zu substantiieren. Er präsentiert eine Aussensicht der Justiz, welche die Selbstreflexion der Richterin und des Richters nicht etwa ersetzt, sondern geradezu einfordert – aber auch auf gelungene Art dazu einlädt.

In seinem Referat Wenn die Politik Druck macht – Richtertätigkeit unter Beeinflussungsversuchen befasst sich der emeritierte Berner Ordinarius und ehemalige Ständerat Ulrich Zimmerli mit der heiklen Schnittstelle zwischen Politik und Justiz. Ausgehend vom verfassungsrechtlichen Rahmen richterlicher Tätigkeit benennt er in erfrischender Deutlichkeit Probleme und den möglichen Umgang mit ihnen. Der Rechtsstaat, so Zimmerli, erträgt «weder plumpe noch raffiniert getarnte Druckversuche der Politik auf die Justiz», sondern baut auf den «konstruktiven Diskurs unter den Staatsgewalten, die sich gegenseitig so respektieren, wie es die Verfassung von ihnen verlangt».

Im Beitrag Urteilen zwischen Intuition und Reflexion präsentiert Mark Schweizer empirisch erhärtete Fakten zum Stellenwert der Intuition in der richterlichen Entscheidungsfindung. Besonders praxisrelevant sind dabei seine beispielsgestützen Erklärungen von typischen Fehlern, welche dem intuitiven Denken eigen sind. Sie zu kennen hilft dabei, die Intuition – ohne die weder der Alltag noch die juristische Arbeit auskommen – mit Erfolg einzusetzen. Machen Sie den Praxistest: Wenn ein Angeschuldigter die ihm zur Last gelegte Tat dezidiert bestreitet und es im psychiatrischen Gutachten heisst, das Bestreiten jeder Schuld sei geradewegs typisch für eine verdrängte Neigung, solche Taten zu begehen – belastet oder entlastet dies den Angeschuldigten? Die – begründete – Antwort finden Sie im Beitrag von Mark Schweizer.

Rechtsprechung findet in Gebäuden und Räumen statt, die so anderes ausgestaltet und ausgestattet sein können. Diese vordergründig ganz handfeste Rahmenbedingung hat insofern auch mit dem human factor zu tun, als sie den Eindruck, den die Rechtssuchenden erhalten, nachhaltig prägen kann. Deshalb nimmt die Zürcher Justiz für sich Anspruch, über solche Fragen selber entscheiden zu können. Darüber, wie es sich mit der Stellung der Gerichte in Bausachen im Kanton Zürich verhält, hat der emeritierte Staats- und Verwaltungsrechtler Walter Haller ein Gutachten erstellt, das die Frage beantwortet, ob die von der Kantonsverfassung garantierte Selbstverwaltung der Zürcher Justiz auch den Bau und Unterhalt und die Ausstattung von Liegenschaften umfasst. Die Antwort Hallers ist über den Kanton Zürich hinaus von Interesse, deshalb finden Sie hier das Gutachten im Wortlaut.

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.

Anne Colliard, Stephan Gass, Regina Kiener, Hans-Jakob Mosimann, Thomas Stadelmann, Pierre Zappelli

 

EDITORIAL
Editorial der Ausgabe 2009/4
Redaktionsteam / Equipe de rédaction / Redazione
Redaktionsteam / Equipe de rédaction / Redazione
Editorial de l'édition 2009/4
Redaktionsteam / Equipe de rédaction / Redazione
Redaktionsteam / Equipe de rédaction / Redazione
SCIENCE
Wenn die Politik Druck macht – Richtertätigkeit unter Beeinflussungsversuchen
Ulrich Zimmerli
Ulrich Zimmerli
Urteilen zwischen Intuition und Reflexion
Mark Schweizer
Mark Schweizer
Richter können gerade bei der Beweiswürdigung auf ihre Intuition nicht verzichten. Oft ist diese auch richtig. Menschen machen jedoch auch ganz bestimmte, identifizierbare Fehler, wenn sie rein intuitiv entscheiden. Nur wenn das anstrengende, langsame, regelbasierte analytische Denken eingreift und den Fehler korrigiert, können Fehlurteile vermieden werden. Aufbauend auf Erkenntnissen der empirischen Psychologie zeigt der Aufsatz, welche typischen Fehler aus unreflektierten intuitiven Entscheidungen entstehen können und legt dar, welche Umstände das Eingreifen des korrigierenden analytischen Systems fördern.
Stellung der Gerichte in Bausachen im Kanton Zürich
Walter Haller
Walter Haller
FORUM
Von der Subjektivität des Richtens
Rolf Lamprecht
Rolf Lamprecht
Mein Vortrag sucht den Dialog mit denen, um die es geht – mit den Richtern. Er animiert sie, Ihren Beruf für einen Moment mit verfremdetem Blick zu betrachten. Die Hypothese ist, dass dies gelingen könnte, wenn ich erzähle, wie ich selbst die Perspektive gewechselt habe. Das erklärt die Ich-Form des Textes zum Anfang.
Gerechtigkeit braucht eine starke Justiz
Michael Gressmann
Michael Gressmann
Am 11. Mai 2009 fand in Berlin ein gemeinsames Symposium des Bundesministeriums der Justiz, des Deutschen Richterbundes und der Friedrich-Ebert-Stiftung unter dem Generalthema «Gerechtigkeit braucht eine starke Justiz» statt.
JUDICATURE
Pas de carte blanche pour les Etats en matière de protection des documents confidentiels ou secrets !
Daniel Rietiker
Daniel Rietiker
Ablehnung von Richtern bei der Neubeurteilung einer Beschwerdesache nach Aufhebung eines Entscheides durch eine Rechtsmittelinstanz
Gerold Steinmann
Gerold Steinmann
REPRINT
Dick Marty: «Ich glaube an die Dynamik der Wahrheit»
Simon Gemperli
Simon Gemperli
Der Tessiner FDP-Ständerat Dick Marty findet den Vorschlag des Bundesrats für ein nationales Menschenrechtsinstitut halbbatzig. Die Vorstellung, es gebe in der Schweiz kein Problem mit der Wahrung der Grundrechte, sei falsch und gefährlich.
Die Justiz-Blase
Jürg Steiner
Jürg Steiner
Selbstherrliche Richter, endlose Verfahren, unverständliche Urteile: Gründe, den Justizapparat der Schweiz zu kritisieren, findet man leicht. Erstaunlich, wie unbehindert er trotzdem weiterwächst.
Thomas Stadelmann: «Rechtsstaatlichkeit ist als Standortfaktor wichtiger als das Bankgeheimnis»
Jürg Steiner
Jürg Steiner
Man dürfe die Justiz schon kritisieren, sagt Thomas Stadelmann, Präsident der schweizerischen Richtervereinigung. Aber bitte differenziert. Er erklärt, was der Rechtsstaat für die Schweiz bedeutet. Auch am Fall Polanski.
Rolf P. Steinegger: «Von Qualitätssicherung kann keine Rede sein»
Jürg Steiner
Jürg Steiner
Wer den Justizapparat kritisiert, kann sich die Finger verbrennen. Der renommierte Berner Anwalt Rolf P.Steinegger tut es trotzdem. Aus Sorge um die Qualität der Justiz, wie er betont.
Nur «blinde» Richter urteilen gut
Brigitte Hürlimann
Brigitte Hürlimann
Gerichte haben streng unparteilich zu entscheiden. Das gilt für die Fallverteilung wie auch für den Umgang mit prominenten Beschuldigten.
«Sehende» Richter braucht das Land
Thomas Müller-Graf
Thomas Müller-Graf
LITERATURE
Rezension: Peter Zihlmann, Richter Hartmanns letzte Aufzeichnungen zur Basler Justizaffäre
Stephan Gass
Stephan Gass
Bibliografie zum Richterrecht - Update 12
Juria
Juria
«Justice - Justiz - Giustizia» publiziert eine Übersicht über neu erschienene Monografien und Artikel in Fachzeitschriften und Festschriften, welche zu Themen rund um die Judikative erschienen sind.
ASSOCIATIONS
Gerichtsmediation und Privatmediation
Niklaus Theiler
Niklaus Theiler
Isabelle Bieri
Isabelle Bieri
Bericht über die Tagung der Schweizerischen Richtervereinigung für Mediation und Schlichtung (Groupement suisse des Magistrats pour la Médiation et la Conciliation, GEMME) und des Centers for Conflict Resolution (CCR) der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern vom 10. Juni 2009 in Luzern.
Justiz: UNO-Frauenkonvention CEDAW
Vivian Fankhauser-Feitknecht
Vivian Fankhauser-Feitknecht
Réunion du Groupe africain de l’Union Internationale à Alger, 28-29 juin 2009
Pierre Zappelli
Pierre Zappelli
Bericht zur Generalversammlung der ZVR
Martin Wirthlin
Martin Wirthlin
Am 27. Oktober 2009 fand die neunte GV der Zentralschweizerischen Vereinigung der Richterinnen und Richter statt, dieses Mal in Hergiswil/NW. Im Anschluss an die statutarischen Geschäfte liessen sich die Teilnehmenden den Spiegel vorhalten, als Dr. Jörg Purtschert, Rechtsanwalt und Notar in Luzern, in gewohnt tiefsinniger Manier zum Thema «Der Anwalt und sein Klient vor Gericht» sprach.
PERSONALIA
AG: Amtsantritt des Präsidenten und des Vizepräsidenten des Obergerichts
Antonio Carbonara
Antonio Carbonara
Nach grossem Einsatz für die Belange der Justiz hat Oberrichter Dr. Ruedi Bürgi per 1. Oktober 2009 das Amt des Obergerichtspräsidenten an Oberrichter Dr. Armin Knecht übergeben. Neuer Vizepräsident des Obergerichts ist Oberrichter Guido Marbet.
TI: Avvicendamenti al Tribunale di appello
Emanuela Epiney-Colombo
Emanuela Epiney-Colombo
Lorenzo Anastasi, presidente del Tribunale amministrativo, ha lasciato la magistratura dopo 30 anni di attività. Nuova giudice del Tribunale d’appello è l’avvocata Flavia Verzasconi, giudice supplente al Tribunale d’appello.
TI: Nuovi arrivi al Ministero pubblico
Emanuela Epiney-Colombo
Emanuela Epiney-Colombo
Elezione di un nuovo sostituto Procuratore pubblico e di un Procuratore pubblico.