Liebe Leserinnen und Leser

Während langer Zeit standen Parlament und Regierung im Fokus der sozial- und geisteswissenschaftlichen Forschung; die Justiz hat nur punktuell wissenschaftliches Interesse geweckt und war auch in diesem Kontext die «stille Gewalt» (Rüdiger Lautmann). Dass dieser Befund so nicht mehr stimmt, zeigt sich anhand der aktuellen Ausgabe der Schweizer Richterzeitung: Neben einer stattlichen Anzahl von spannenden Forums- und News-Beiträgen publizieren wir in der aktuellen Nummer gleich vier wissenschaftliche Beiträge zu Justizthemen, darunter zwei in französischer Sprache.

Der Beitrag von Elisabeth Chiariello geht der grundlegenden Frage nach, wie Richterrecht auf Verfassungsstufe gewonnen wird. Auch die Verfassungsgerichtsbarkeit unterliegt der Rechtsbindung, indessen ist der Prüfmassstab (die Verfassung, namentlich die Grundrechte) ausgesprochen offen und unbestimmt. Die Grenzen zwischen schöpferischer Verfassungs«auslegung» und Schaffung von verfassungsrechtlichem Richterrecht sind unklar, zudem spielt sich der Vorgang ausserhalb des formellen Verfahrens der Verfassungsgebung ab, weshalb dem so geschaffenen Verfassungsrecht zumindest vordergründig ein Legitimitätsproblem erwächst. Elisabeth Chiariello belegt das Bedürfnis nach richterlicher Verfassungsfortbildung, zeigt aber auch deren Grenzen.

Gleich zwei Beiträge sind der Justizkommunikation gewidmet. Bertil Cottier («Les nouveaux défis de la communication judiciaire») fragt nach neuen Herausforderungen der Justizkommunikation; dabei werden die Möglichkeiten der aktiven Information bis hin zu den Mitteln des Interviews, der Pressekonferenz oder dem Leserbrief ausgelotet und auch die Frage der (mehr oder weniger gezielten) Indiskretionen angesprochen. Einen besonderen Aspekt der Justizkommunikation bringt Katharina Gräfin von Schlieffen mit der Frage «Wie überzeugt der Richter sein Auditorium?» in die Diskussion ein. Ihre Untersuchung der richterlichen Überzeugungspraxis erfolgt – soweit ersichtlich erstmals – mit den methodischen Mitteln der Rhetorik.

Die Ökonomisierung macht auch vor der Justiz nicht Halt. In diesem Kontext steht der Beitrag von François Paychère zur Qualitätsförderung in der Justiz (La promotion de la qualité, un enjeu pour les tribunaux helvétiques?). Nach einem kurzen Abriss über entsprechende Methoden in anderen Rechtsstaaten wird die von der Commission européenne pour l'efficacité de la justice (CEPEJ) entworfene Checkliste («Checklist pour la promotion de la qualité de la justice et des tribunaux») vorgestellt und auf ihre Eignung für die Schweizer Justiz hin untersucht.

Ebenfalls mit ökonomischen Überlegungen zu tun hat die Geschäftslastverteilung an den Gerichten. Gleich mehrere Beiträge beschäftigen sich mit diesem Thema. Dabei wird u.a. aufgezeigt, dass nicht alleine der rein zahlenmässge Aspekt wichtig ist, sondern dass auch qualitativen Überlegungen Rechnung getragen werden muss.

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.

Anne Colliard, Stephan Gass, Regina Kiener, Hans-Jakob Mosimann, Thomas Stadelmann, Pierre Zappelli

EDITORIAL
Editorial der Ausgabe 2009/3
Redaktionsteam / Equipe de rédaction / Redazione
Redaktionsteam / Equipe de rédaction / Redazione
Editorial de l'édition 2009/3
Redaktionsteam / Equipe de rédaction / Redazione
Redaktionsteam / Equipe de rédaction / Redazione
SCIENCE
Richterrecht auf Verfassungsstufe
Elisabeth Chiariello
Elisabeth Chiariello
Im modernen Konstitutionalismus gilt die geschriebene Verfassung als Garantin der tragenden Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaat. Sie ist Grundlage und Angelpunkt jeder weiteren Ausgestaltung und Erkenntnis des Rechts. Aufgrund dieser überragenden Bedeutung wird Verfassungsrecht regelmässig nur in qualifizierten Verfahren der Gesetzgebung erlassen. Dieser unbestrittenen Ordnung steht die Wahrnehmung gegenüber, dass in der Rechtswirklichkeit Verfassungen nicht nur auf formellem Wege, sondern auch durch die Rechtsprechung der höchsten Gerichte gestaltend geformt und weitergebildet werden. Diese im kontinentaleuropäischen Raum wenig beachtete Komponente der Verfassungsentwicklung in Form konstitutionellen Richterrechts ist Gegenstand der rubrizierten Habilitationsschrift, deren Forschungsergebnisse folgender Beitrag im Sinne einer Kurzpräsentation aufnimmt. Die exemplarische Darstellung und Analyse des Phänomens Richterrecht erfolgt im Rahmen der Grundrechtsjudikatur der Schweiz, Deutschlands und der europäischen Gerichtsbarkeiten (EGMR, EuGH). Konstitutionelles Richterrecht erweist sich dabei substantiell als normativer Mehrwert, der den Normbestand der jeweiligen Verfassungsordnungen erweitert und mit Blick auf Wandlungen der Wirklichkeit aktualisiert. Die anschliessende Suche nach rechtsstaatlicher Zuordnung und demokratischer Legitimität von konstitutionellem Richterrecht führt zu Antworten, welche im Lichte des verfassungsmässigen Auftrags der höchsten Gerichte zur Verfassungsrechtspflege und am Massstab elementarer Grundsätze der Verfassung selbst gewonnen werden. Die Untersuchung verfolgt das Ziel, sowohl Möglichkeit und Unentbehrlichkeit als auch Grenzen richterlicher Verfassungsfortbildung aufzuzeigen.
Wie überzeugt der Richter sein Auditorium?
Katharina Gräfin von Schlieffen
Katharina Gräfin von Schlieffen
Richter setzen unbewusst komplexe sprachliche Mittel ein, um ihre Entscheidungen zu begründen. Sie verwenden Argumente und rhetorische Figuren in einem bestimmten Verhältnis, wie die nachfolgend vorgestellten empirischen Studien zeigen.
La promotion de la qualité, un enjeu pour les tribunaux helvétiques ?
François Paychère
François Paychère
Service public, la justice doit être capable de susciter et de conserver la confiance des citoyens et des citoyennes ; elle ne peut se contenter d'une approche formelle de sa propre légitimité. Comme elle ne se trouve pas dans une situation de concurrence, il lui appartient de s'interroger elle-même sur la qualité des prestations qu'elle fournit. Une « checklist » récemment établie sous l'égide du Conseil de l'Europe a pour objet l'évaluation de la qualité des appareils judiciaires. En Suisse, le troisième pouvoir est-il prêt à cette introspection ?
Les nouveaux défis de la communication judiciaire
Bertil Cottier
Bertil Cottier
FORUM
Gerichtsmediation und Privatmediation – internationale Erfahrungen
Andrea Staubli
Andrea Staubli
Die eidgenössische Zivilprozessordnung erweitert das Instrumentarium des Richters / der Richterin um eine weitere Form der Streitbeilegung: die gesetzliche Verankerung der Mediation als Chance.
Geschäftslastbewirtschaftung bei Gerichten
Andreas Lienhard
Andreas Lienhard
Daniel Kettiger
Daniel Kettiger
Justizmanagement und Unabhängigkeit der Justiz
Luzius Wildhaber
Luzius Wildhaber
Der ehemalige Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte beschreibt im folgenden Artikel seine Erfahrungen aus den Jahren 1998-2007 mit dem Justiz-Management dieses Gerichtshofs. Der Ausdruck «Justiz-Management» als solcher wird nicht verwendet und eine eigentliche Aufsichtsbehörde ist nicht eingesetzt, aber die Probleme existieren in vielfältigen Formen. Der Gerichtshof hat praktisch ständig sein Verfahren und seine Mechanismen überprüft, gestrafft, vereinfacht und zweckmässiger gestaltet. Zwei Audit-Berichte, ein Management-Bericht und Vorschläge einer Gruppe von Weisen haben das Management des Gerichtshofs evaluiert und neue Vorschläge gemacht. Das Hauptproblem bleibt, dass das Recht der Individualbeschwerde seit 1998 weitgehend unbeschränkt ist, und mit der Zunahme neuer Mitgliedsstaaten (1998 insgesamt 22, 2009 insgesamt 47) die Zahl der Beschwerden massiv zugenommen hat (2008 waren es etwa 50'000), ohne dass man sich dazu aufgerafft hat, den Zugang zum Gerichtshof einzuschränken.
Effizienz und Unabhängigkeit im Gerichtsbetrieb: Geschäftslastbewirtschaftung am Bundesverwaltungsgericht
Christoph Bandli
Christoph Bandli
Geschäftsverteilung im Landgericht Berlin
Lothar Jünemann
Lothar Jünemann
Personalzuteilung und richterliche Geschäftsverteilung in Gerichten sind häufig für Außenstehende und auch Kollegen anderer Gerichtszweige nicht einfach nachvollziehbar. Ein Beispiel aus der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland soll diese etwas anschaulicher machen. Der nachfolgende Beitrag stellt die Geschäftsverteilung am Beispiel der Zivilverfahren des Landgerichts Berlin dar.
Geschäftslastbewirtschaftung am Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
Hans-Jakob Mosimann
Hans-Jakob Mosimann
Geschäftslastbewirtschaftung am Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
Patrick M. Müller
Patrick M. Müller
Le deuxième module du CAS de l’Académie Suisse de la Magistrature a rencontré un vif succès
François Bohnet
François Bohnet
NEWS CH
Wahl und Aufsicht über die Bundesanwaltschaft – Stand der parlamentarischen Beratungen
Christine Lenzen
Christine Lenzen
Gemäss Beschluss des Ständerates vom 9. Juni 2009 soll neu ein Sondergremium die Aufsicht über die Bundesanwaltschaft wahrnehmen. Der Bundesanwalt oder die Bundesanwältin und die beiden Stellvertretenden Bundesanwälte oder Bundesanwältinnen sollen von der Bundesversammlung gewählt werden. Die Vorlage ist jetzt bei der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates hängig.
BE: Stand der Justizreform
Frédéric Kohler
Frédéric Kohler
Der Grosse Rat des Kantons Bern hat in zwei Lesungen im April1und Juni2dieses Jahres die gesetzliche Basis für die sich bereits seit längerem abzeichnende, grosse Justizreform beraten und verabschiedet. Es darf davon ausgegangen werden, dass kein Referendum gegen die neuen Erlasse ergriffen wird, so dass der Kanton Bern für eine Inkraftsetzung per 1. Januar 2011 bereit ist.
TI: Nessun concorrente per un posto di Procuratore pubblico presso il Ministero pubblico
Emanuela Epiney-Colombo
Emanuela Epiney-Colombo
Il ricambio in seno al Ministero Pubblico del Cantone Ticino incontra difficoltà.
TI: Rinnovo dei giudici di pace
Emanuela Epiney-Colombo
Emanuela Epiney-Colombo
Elezioni combattute in alcuni Circoli, con scarsa partecipazione degli elettori in occasione del rinnovo dei Giudici di pace e dei loro supplenti.
LITERATURE
Bibliografie zum Richterrecht - Update 11
Juria
Juria
«Justice - Justiz - Giustizia» publiziert eine Übersicht über neu erschienene Monografien und Artikel in Fachzeitschriften und Festschriften, welche zu Themen rund um die Judikative erschienen sind.
ASSOCIATIONS
Referate der Konferenz «Mediation im Dienste des Friedens»
Niklaus Theiler
Niklaus Theiler
Tagung der Europäischen Richtervereinigung in Krakau/Polen
Stephan Gass
Stephan Gass
Vom 15. bis zum 16. Mai 2009 fand die halbjährliche Delegiertenverssammlung der Europäischen Richtervereinigung (ERV), einer Regionalgruppe der Internationalen Richter-vereinigung (IRV/UIM/IAJ), in Krakau statt.
AEM: Résolution concernant la question des salaires des juges
Juria
Juria
EAJ: Resolution concerning the issue of judges' salaries
Juria
Juria
PERSONALIA
Bundesversammlung wählt drei neue Richter nach Bellinzona
Juria
Juria
Die Vereinigte Bundesversammlung hat am 10. Juni 2009 14 bisherige Richterinnen und Richter des Bundesstrafgerichts für die Amtsperiode 2010 bis 2015 bestätigt. Zudem wählte sie drei neue Mitglieder des in Bellinzona angesiedelten Gerichts.
L'Assemblée fédérale renouvelle le Tribunal pénal fédéral
Juria
Juria
Trois nouveaux juges siègeront au Tribunal pénal fédéral dès 2010. Parmi les partis le PLR maintient sa représentation au sein de cette instance, et les Verts y gagnent un siège. Mais les démocrates-chrétiens sont désormais sous-représentés.
SO: drei neue Richter am Obergericht
Pascal Haussener
Pascal Haussener
Am Obergericht des Kantons Solothurn gab es auf den August grosse Veränderungen. Gleich drei erfahrene Oberrichter sind altershalber zurückgetreten.
VS: neuer Kantonsgerichtspräsident
Philipp Näpfli
Philipp Näpfli