Justice - Justiz - Giustizia

Art. 30 Abs. 1 BV - Ablehnung eines Richters wegen Verfahrensfehlern?

Urteil 1P.548/2005 des Bundesgerichts vom 22. November 2005

  • Autor/Autorin: Gerold Steinmann
  • Zitiervorschlag: Gerold Steinmann, Art. 30 Abs. 1 BV - Ablehnung eines Richters wegen Verfahrensfehlern?, in: «Justice - Justiz - Giustizia» 2006/1
Zur Begründung von Ausstandsbegehren und von Rügen der Verletzung des Anspruchs auf einen unbefangenen und unvoreingenommenen Richter werden meist persönliche Gegebenheiten oder verfahrensorganisatorische Umstände angerufen. Darüber hinaus wird nicht selten geltend gemacht, der Richter habe durch prozessuale Fehler oder materiell unzutreffende Entscheidungen Befangenheit an den Tag gelegt. In dieser Hinsicht betont das Bundesgericht im vorliegenden Fall, dass nur krasse und wiederholte Irrtümer sowie schwere Amtspflichtverletzungen mit einseitiger Auswirkung auf eine Partei bei objektiver Betrachtung den Anschein der Befangenheit erwecken können. Verstösse gegen formelles und materielles Recht sind in erster Linie bei den Rechtsmittelinstanzen geltend zu machen und letztlich nicht im Ablehnungsverfahren zu prüfen. Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer das Urteil des (erstinstanzlichen) Kantonsgerichts, mit dem er in einem äusserst aufwendigen Verfahren zu einer 10-jährigen Freiheitsstrafe verureilt worden war, beim Obergericht u.a. wegen Verletzung von Art. 30 Abs. 1 BV infolge von Verfahrensfehlern angefochten und die Rückweisung zu neuer Beurteilung in anderer Besetzung verlangt. Das Obergericht hat tatsächlich eine Reihe von Verfahrensfehlern festgestellt (u.a. Verletzung des Anklagegrundsatzes, Umkehr der Beweislast und Verletzung der Unschuldsvermutung, Verweigerung von Beweisen und Zeugenbefragungen); es hat indessen die Befangenheitsrüge abgewiesen und für die Fortführung des obergerichtlichen Verfahrens das Erforderliche angeordnet. Die dagegen erhobene staatsrechtliche Beschwerde blieb erfolglos. Das Bundesgericht hielt dafür, dass die festgestellten (und korrigierten) Verfahrensmängel vor dem Hintergrund des gesamten umfangreichen Verfahrens nicht von ausschlaggebender Bedeutung waren und bei objektiver Betrachtung nicht den Anschein der Befangenheit des Kantonsgerichts erweckten.