Justice - Justiz - Giustizia

Liebe Leserinnen und Leser

«Ich ermördere Dich. Es gibt keine Gesetze für Vito.» Mit diesem Zitat aus einem Einvernahme-Protokoll aus einem Strafverfahren beginnt Nadja Capus ihren Aufsatz über die Protokollierung im Zivil- und Strafprozess. So soll die vom mutmasslichen Täter Vito Repelli bedrohte Frau ausgesagt haben. Der Täter hat dies denn auch bestätigt. Nach der sog. Abbildfiktion wird angenommen, dass die jeweiligen Protokollführer die Aussagen der befragten Personen originalgetreu niederschreiben. Diese Abbildfiktion ist eine wichtige Quelle für die Beweiskraft von Protokollen. Das Protokoll wiederum ist für den Richterin und die Richter ein wesentliches Beweismittel. Sie oder er soll im Rahmen der Beweiswürdigungspflicht nach freiem Ermessen die Beweise würdigen. Aber wird durch das schriftliche Protokoll die Verfahrenshandlung vorurteilsfrei wiedergegeben? Darüber haben Richterinnen und Richter offensichtlich keine Gewissheit. Der «Herstellungsprozess» des Beweismittels «Verfahrensprotokoll» ist eine «black box», obwohl er für die Gerichte von grosser Bedeutung ist. Damit wird die Beweiswürdigung des Protokolls schwierig. Richterinnen und Richter können beim Lesen von Protokollen den Inhalt mit dem tatsächlichen Geschehen nicht vergleichen. Was aber ist notwendig, um trotzdem eine faire und sachliche Würdigung durchzuführen? Dieser Frage geht die Autorin in ihrem Beitrag nach – und kommt zu überraschenden Ergebnissen.

Daniel Kettiger stellt eine Untersuchung der Universität Zürich vor, die sich mit dem Erfolg der Schlichtung (nach Art. 197 ff. ZPO) befasst. Demnach sollten «gerichtsnahe» Schlichtungsmodelle tiefe, unabhängige (private) Schlichtungsstellen jedoch hohe Erfolgsquoten aufweisen. Der Autor versucht, diese These zu verifizieren bzw. zu falsifizieren, indem er weitere verfügbare Statistiken und Untersuchungsergebnisse eines laufenden Forschungsprojekts heranzieht. Besonders erfolgreich scheint ein Modell des Kantons Bern zu sein.

Mit einem Beitrag aus der forensischen Psychologie zeigt Martin Kaufmann auf, dass Antworten bei einer Zeugenbefragung wesentlich von der Art der Fragen und der Befragung abhängen. Unbeeinflusste Zeugenbefragungen kommen am ehesten zustande, wenn das neutrale Gericht befragt.

Anja Martina Binder befasst sich mit der Kognition des Bundesverwaltungsgerichts beim Prozessieren mit fachtechnischen Fragen. Solche Fragen können von rein juristisch ausgebildeten Personen kaum mehr beantwortet werden. Die Richterin, der Richter beruft sich dabei mehr und mehr auf ein «technisches Ermessen», d.h. man überlässt die Beantwortung einer fachtechnischen Frage oft «abschliessend» der spezialisierten erstinstanzlichen Verwaltungsbehörde. Wird aber dadurch der grundrechtliche Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz nach Art. 29a der Bundesverfassung nicht vereitelt?

Mit einer rechtshistorischen Betrachtung Daniel Rietikers zu einem Urteil des Supreme Court der USA aus dem Jahre 1954 – ein Urteil, das nicht unwesentlich die Entwicklung zur rechtlichen Gleichstellung der schwarzen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten beeinflusst hat – wird der Science-Teil dieser Ausgabe abgeschlossen.

Im Forum macht sich Thomas Stadelmann Überlegungen zur Wahl und Wiederwahl von Richterinnen und Richtern. Dies im Zusammenhang mit einem Entwurf zu einer Gesamtrevision der Gerichtsordnung des Kantons Luzern. Anastasia Falkner stellt sich in der Kolumne der Schweizerischen Vereinigung der Richterinnen und Richter (SVR) der in letzter Zeit verstärkt in Erscheinung tretenden Kritik der Öffentlichkeit an der Justiz und was mit der Kritik wirklich erreicht wird.

Ein Bericht von der Frühjahrstagung der Europäischen Richtervereinigung (EAJ/IAJ), das Update der Bibliographie des Richterrechts, Rezensionen, News aus der Schweiz und dem Ausland und Presse-Reprints zu Fragen der richterlichen Unabhängigkeit, des Richterstatus und der Richterethik runden diese mit einer breiten Themenvielfalt ausgestattete Ausgabe der Schweizerischen Richterzeitung ab.

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.

Das Redaktionsteam: Emanuela Epiney-Colombo, Stephan Gass, Regina Kiener, Hans-Jakob Mosimann, Thomas Stadelmann, Pierre Zappelli.
 

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