Justice - Justiz - Giustizia

Peter Zihlmann: «Die Justiz kann nicht so viel leisten, wie die Gesellschaft ihr zumutet»

  • Autoren/Autorinnen: Stephan Gass / Daniel Hürlimann
  • Zitiervorschlag: Stephan Gass / Daniel Hürlimann, Peter Zihlmann: «Die Justiz kann nicht so viel leisten, wie die Gesellschaft ihr zumutet», in: «Justice - Justiz - Giustizia» 2008/1
Peter Zihlmann war während über 20 Jahren als Wirtschaftsanwalt, Strafverteidiger sowie als Mietgerichtspräsident in Basel tätig. Er vertrat u.a. den Finanzjongleur André Plumey und erreichte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Verurteilung der Schweiz und damit die Einführung des Haftrichters in Basel. Zihlmann hat zahlreiche Bücher zu den Themen Justiz, Recht und Gerechtigkeit sowie über die Fälle André Plumey, Guido A. Zäch und Dieter Behring veröffentlicht. Im Interview mit der Richterzeitung äussert er sich kritisch zur Legitimation des (Wirtschafts-)Strafrechts, zu den Erwartungen der Gesellschaft an die Justiz, zum Fall Guido A. Zäch und zu möglichen Alternativen eines Strafprozesses.
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«Justice - Justiz - Giustizia»: Herr Zihlmann, ich begrüsse Sie ganz herzlich zu unserem Gespräch. Sie sind ein engagierter Justizkritiker – wenn man das so sagen darf – und sie haben eine lange Erfahrung mit der Basler Justiz als Strafverteidiger und a.o. Gerichtspräsident sowie als privater Ombudsmann. Sie haben neben juristischen Fachpublikationen, z.B. zum Mietrecht, auch Justizromane geschrieben und kritische Bücher über die Justiz verfasst (etwa «Justiz im Irrtum», 2000). Sie gelten als scharfer Kritiker der schweizerischen Justiz. Was treibt Sie an, dies zu tun?

 

«Justizkritiker» ist eine Etikette, die mir von den Medien umgehängt worden ist, die ich nicht selber gewählt habe. Ich habe dann aber realisiert, dass ich effektiv Justizkritik betreibe. Aus heutiger Sicht muss ich jedoch sagen, dass dieser Begriff mein Anliegen nicht auf den Punkt bringt. Ich hinterfrage das Recht. Was ich mache, ist eher gesellschaftskritisch gedacht. Und weil ich mich ein Leben lang in verschiedenen Funktionen mit der Justiz befasst habe, ist es in gewissem Masse auch Selbstkritik.

Ich hinterfrage das Recht, weil ich im Verlauf meiner beruflichen Tätigkeit und der leidvollen Erfahrungen von Betroffenen gespürt habe, dass das juristische Denken, das ich in jungen Jahren faszinierend fand, auch zu einer schwerwiegenden und bedenklichen Beschränkung des Lebensbildes führen kann. Es gibt da schon Schlüsselerlebnisse. Vielleicht kommen wir noch darauf zu sprechen.


«Justice - Justiz - Giustizia»: In Ihrem Buch «Justiz im Irrtum» erscheint der Rechtsstaat Schweiz als quasi «Unrechtsstaat». Sie stellen bedenkliche Tendenzen und Strukturen fest. Was meinen Sie damit konkret?


Als «Unrechtsstaat» habe ich die Schweiz nie bezeichnet. Wir leben in einem geordneten Rechtsstaat. Ich glaube nicht, dass die Justiz in einer Krise ist – im Gegenteil: Die Gesetze vermehren sich zu einer wahren Gesetzesflut, die ganze Reglementierung weitet sich aus und wird unübersichtlich. Gerade im Strafsektor vermehren sich die Deliktstatbestände explosiv. Dies ist nicht nur ein quantitatives, sondern auch ein qualitatives Problem, weil die Zugriffe auf den Einzelnen immer engmaschiger werden und immer mehr Freiräume, Privaträume und Intimsphären beschränkt werden. Dies ist einerseits verständlich, anderseits fragwürdig, weil der Staat in letzte geschützte, häusliche Bereiche («my home is my castle») einbricht. Der Zugriff erfolgt von allen Seiten: Der Eherichter kann z.B. dem Ehemann mit strafrechtlichen Konsequenzen verbieten, seiner Partnerin näher als eine gewisse Anzahl Meter zu kommen. Die Polizei kann analog eingreifen oder der Haftrichter kann dem Entlassenen eine entsprechende Auflage machen. Oft wird mit Rayonverboten, Wegweisungen und nun auch durch Verweigerung der Eheschliessung gegenüber Ausländern polizeirechtlich in Grundrechte eingegriffen.

«Ich glaube, dass die Gesellschaft die Justiz überfordert, wenn sie meint, durch Strafen könne das Böse und Fremde oder Fremdartige ausgegrenzt werden.»


Die Idee meines Buches «Justiz im Irrtum» ist es, das Recht Freiheitsstrafen zu verhängen in Frage zu stellen. Das Recht breitet sich immer mehr aus und die Justiz wird mächtiger. Das Volk trägt diese Entwicklung mit und fühlt sich dadurch vor dem Bösen und Fremden, vor Normabweichung geschützt. Trotzdem lauern Gefahren: Durch den Glauben mittels einer harten Law-and-Order-Politik die innere Sicherheit erzwingen zu können, wird das ganze Leben eingeengt und verhärtet. Ob ein solcher «Idealzustand» überhaupt machbar ist, bleibt die entscheidende Frage an das Strafrecht. Ich glaube, dass die Gesellschaft die Justiz überfordert, wenn sie meint, durch Strafen könne das Böse und Fremde oder Fremdartige ausgegrenzt werden. Das ist der Irrtum.

Das Wesentliche im gesellschaftlichen Körper können wir nicht mit dem Strafrecht beeinflussen. Trotzdem kommen wir immer wieder in Situationen, wo wir keinen anderen Ausweg sehen als zu strafen. Aber das eigentliche Problem ist viel verzweigter. Die Konsequenzen unserer Handlungen sind viel weitreichender als wir annehmen und als der Jurist oder Richter je feststellen kann. Hinter jeder Geschichte verbirgt sich eine weitere Geschichte, so wie wir das aus der modernen Schweizer Literatur kennen, z.B. aus Friedrich Dürrenmatts Roman «Justiz». Da geht es anfänglich um einen scheinbar völlig sinnlosen Mord, den Staatsrat Kohler in einem Restaurant ausführt. Am Ende der Geschichte erkennt der Leser, dass Kohler, ein frustrierter Vater, seine sexuell missbrauchte Tochter rächte. Indem er eine falsche Fährte legt, gelingt es ihm, sich der Justiz zu entziehen. Bei Dürrenmatt wohnt die Gerechtigkeit bekanntlich in einer Etage, zu der die Justiz keinen Zutritt hat. In die gleiche Richtung weist die Geschichte aus Tausendundeine Nacht, die Dürrenmatt in seinem «Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht» erzählt, «um dem Juristen Stoff für dessen Nachdenken und Klassifizieren zu liefern»: An einer Quelle verliert ein Reiter einen Geldbeutel, ein zweiter findet ihn und entfernt sich. Der erste reitet zurück, trifft einen dritten, der das Geld nicht hat und erschlägt diesen. Ein Beobachter sieht das Ganze und bewertet es als schreckliches Unrecht. Schliesslich sagt Allah zum Beobachter: «Du verstehst meine Gerechtigkeit nicht. Du weisst ja nichts. Der erste hatte das Geld dem Vater des zweiten gestohlen, dieser hat also nur genommen, was ihm schon gehörte. Der dritte hatte die Frau des ersten Reiters vergewaltigt.» Wir ersehen aus beiden Geschichten, dass jedes Urteil vom Wissen abhängt, das wir vom Sachverhalt haben. Und von der Perspektiven, aus der wir die Geschichte sehen.

Als Anwalt habe ich ganz eindrücklich in der Basler Justizaffäre (1998-2001) erlebt, wie das Recht durch die Anklage einen Sachverhalt einzirkelt und diesen damit sozusagen zum Spielfeld macht, innerhalb dessen argumentiert und gestritten werden muss. Als Verteidiger der ersten V-Person (im Dienst der Polizei von Basel-Land) versuchte ich diesen Rahmen zu sprengen. Diese Frau wurde in der Untersuchungshaft für die Polizeidienste angeworben, behauptete jedoch nach wenigen Tagen, sie sei von ihrem Führungsoffizier in der Zelle sexuell missbraucht worden. Das Verfahren gegen den Führungsoffizier wurde eingestellt, nachdem die Frau vor laufender Fernsehkamera von RTL erklärt hatte, sie hätte Spass am Sex in der Zelle gehabt. Sie wurde daher wegen falscher Anschuldigung und Freiheitsberaubung angeklagt. Vergeblich verlangte ich abzuklären, was sich in der Zelle abgespielt hat. Das wies der Strafrichter mit der Begründung zurück, die Frau habe zugegeben, dass sie nicht vergewaltigt worden sei und damit sei ihre Falschaussage erstellt. Laut Einvernahmeprotokoll deponierte die Frau jedoch nur: «Ich wurde gebumst», da stand nichts von Vergewaltigung oder Zwang. Aber die Medien, vor allem die Boulevardpresse, sprachen von «Vergewaltigung», und nach dem «Widerruf» vor den Medien betitelte der Blick die Frau als «Die Lügnerin». Das zeigt, wie stark die mediale Darstellung auf die gerichtliche Wahrnehmung einwirken und diese sogar ganz verdrängen kann. Es kam zur Verurteilung der Frau. Sie appellierte, litt unter Angstattacken und erschien nicht mehr vor zweiter Instanz. Sie war seelisch gebrochen und hat anschliessend die Schweiz verlassen.

«Gerade das Wirtschaftsstrafrecht könnte durch einen Wahrheitsprozess abgelöst werden, der dann in einer Ächtung des Verhaltens des Täters mündete.»

 

«Justice - Justiz - Giustizia»: Sie kritisieren insbesondere auch die Justiz im Zusammenhang mit der Wirtschaftskriminalität, die primär die kleinen «Finanzjongleure» verfolge und verurteile, jedoch die grossen Bosse und die Banken unbehelligt lasse. Zudem seien die Opfer alles andere als gutgläubige Kleinanleger. Vielmehr handle es sich dabei um Schwarzgelder, die den Wirtschaftsdelinquenten geradezu nachgeworfen würden (etwa im Fall European Kings Club oder Plumey). Man könne sogar von einer grossen Spekulationsgemeinde von Anlegern und Wirtschaftsdelinquenten sprechen. Was führt Sie zu dieser Beurteilung?


Wir prangern fortlaufend und zunehmend die Wirtschaftsdelinquenz an, ohne das System, aus dem die Delinquenz herauswächst, in Frage zu stellen. Wenn ich die Freiheitsstrafe in Frage stelle, so versuche ich, eine Form von staatlich legitimierter Gewalt einzuschränken. Gerade das Wirtschaftsstrafrecht könnte durch einen Wahrheitsprozess abgelöst werden, der dann in einer Ächtung des Verhaltens des Täters mündete. Dieser könnte als Sanktion z.B. aus gewissen Positionen entfernt werden, oder es könnte ihm die Unfähigkeit zur Bekleidung von leitenden Stellen attestiert werden. Ich bin nicht für Verantwortungslosigkeit – im Gegenteil: die Verantwortung ist ein Grundprinzip menschenwürdigen Lebens. Aber ich stelle infrage, ob es sinnvoll ist Freiheitsstrafen zu vollziehen. Gleichzeitig müssten die verzweigten gesellschaftlichen Zusammenhänge aufgezeigt werden. Dadurch würde vermehrt eine präventive Wirkung erzielt.

In der Wirtschaftskriminalität unterscheiden wir zwischen grossen und kleinen Fällen, jedoch vergeblich. Alles bleibt relativ. Gegenüber dem Angestellten, der Fr. 100 aus der Portokasse nimmt, ist der Prokurist, der Fr. 50'000 abzweigt, ein grosser Fall. Anders sieht es aus, wenn wir diesen nun mit einem Grossbetrüger vergleichen. Aber wir betrachten auch so wiederum lediglich einen Ausschnitt aus dem Wirtschaftsgeschehen. Soeben sind die Verluste der UBS in der Grössenordnung von Fr. 16 Milliarden bekannt geworden. Dies sind ganz gewaltige Vorgänge, welche die Einzeldelinquenz selbst grösster Wirtschaftsstraffälle wie kleine Schnäppchen erscheinen lassen. Solche Vorgänge lösen jedoch nicht einmal ein Untersuchungsverfahren aus. Die Strafverfolger könnten ja sofort zu ermitteln beginnen – es wäre mindestens ein Anfangsverdacht für ungetreue Geschäftsbesorgung durchaus gegeben. Das sind Grössenordnungen, wo plötzlich das Ganze auf dem Spiel steht.

«Woher nimmt die Justiz eigentlich die Kraft, im Einzelfall so zuzuschlagen und diese Schuld der vielen verbundenen Hände bzw. einer organisierten Unverantwortlichkeit auf einen Einzelnen strafend abzuwälzen?»


Und doch wird durch ein «Bonussystem» wie es z.B. die UBS für leitende Mitarbeiter praktiziert, eine Ambiance des übersteigerten Ehrgeizes und der Gier geschaffen, die leicht zu schlimmem wirtschaftskriminellem Verhalten führen kann. Genau das ist der Punkt: Unsere Gesellschaft benimmt sich zwiespältig und heuchlerisch! Sie duldet solche kriminogenen Verhaltensweisen nicht nur, sondern fördert sie, zeichnet sie aus und führt sie damit in das System ein. Dabei sind dann wieder die Einzelnen Opfer des falschen Systems. Das ist die Krux der Strafjustiz: Sie leidet an einem schleichenden, inneren, unsichtbaren Legitimationsmangel. Woher nimmt die Justiz eigentlich die Kraft, im Einzelfall so zuzuschlagen und diese Schuld der vielen verbundenen Hände bzw. einer organisierten Unverantwortlichkeit auf einen Einzelnen strafend abzuwälzen?

«Das ist ein urmenschliches Problem: dass jede Verurteilung letztlich auch eine Selbstverurteilung ist. Wir leiden, wenn wir andere verurteilen, weil wir dadurch immer auch ein Stück von uns selbst abspalten; ein höheres Bewusstsein, eine Einsicht geht verloren.»


Wenn wir ehrlich sind, sehen wir, dass Gut und Böse Herz und Seele eines jeden Einzelnen spalten. Diesen Weg der Erkenntnis geht der Richter gleich wie Ödipus ihn als Wahrheitssucher und Rätsellöser gegangen war. Spontan kommt mir der Gedanke, dass Ödipus das «Wappenbild» des Richters sein könnte. Nicht nur Ödipus, schon seine Eltern haben das Orakel befragt, um dem vorangekündigten Unheil auszuweichen. Ödipus befreit Theben von der Plage der Sphinx, indem er das grosse Menschheitsrätsel löst. Er erkennt den Menschen in abstracto. Diese Erkenntnis reicht aber nicht aus, die Plagen in Theben gehen weiter, und Ödipus will alles daran setzen, um den Verursacher dieser Plagen zu finden. Jetzt geht er den Weg der Selbsterkenntnis weiter. Er lernt sein eigenes Leben und sein Verhängnis von Grund auf kennen. Am Ende entdeckt er, dass er selber, der Unwissende, der Schuldige ist. Er hat den Vater erschlagen und die Mutter geheiratet. Sehend wird er erst, nachdem er die Wahrheit erkennend sich die Augen aussticht. Dieser Mythos ist hochaktuellIch glaube, das ist ein urmenschliches Problem: dass jede Verurteilung letztlich auch eine Selbstverurteilung ist. Wir leiden, wenn wir andere verurteilen, weil wir dadurch immer auch ein Stück von uns selbst abspalten; ein höheres Bewusstsein, eine Einsicht geht verloren.

Im Leben sehe ich primär Leid und Unglück neben Glück und Freude. Wer aber Opfer und Täter ist, das ist weitgehend eine Zuschreibung und wir sehen auch immer wieder, dass der Täter oft auch zugleich Opfer ist. Goethe hat gesagt «der Verbrecher ist der Verbrochene». Das Leben mit all seinen Wirklichkeiten ist facettenreich, widersprüchlich und undurchschaubar. Das juristisch-begriffliche Denken ist trügerisch eindeutig und drängt uns in eine blicklose Ecke hinein. Der Jurist fokussiert sein Denken auf den gesetzlichen Tatbestand und nimmt aus der Wirklichkeit gerade soviel als er braucht. Den grossen Rest verwirft er als «unwesentlich». Das ist der Pferdefuss abstrakten Denkens!

«Justice - Justiz - Giustizia»: Sie sagten im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Guido A. Zäch, dass die daran beteiligten Richterinnen und Richter juristisch bestausgebildet und integere Menschen seien. Das eigentliche Problem der Justiz liege in ihrer politischen Struktur. Justiz sei immer so gut wie die politische Grosswetterlage. Die Justiz richte sich nach dem Wind des Zeitgeistes und urteile so, wie es auf Grund dieser Machtverhältnisse zu erwarten sei. Was meinen Sie damit?


Was ist das, Straf? Die Strafjustiz bestraft, das ist eine Organisationsform der Gesellschaft. Das Rechtliche daran ist, dass die Strafe sich auf ein Gesetz stützt. Aber genügt das heute, wo selbst überkommene Naturgesetze vor neuen Erkenntnissen zerbröseln? Der Physik-Nobelpreisträger Robert B. Laughlin hat z.B. festgestellt, dass es Zustände gibt, die mit den Gesetzen der klassischen Mechanik nicht erklärt werden können: So ist beispielsweise die Festigkeit von Metall im Nanobereich gar nicht mehr feststellbar. Hirnforscher wie der Neurowissenschafter Hans Markowitsch bezweifeln unsern freien Willen, den Grundpfeiler des Strafrechts, weil sie den Menschen als biologisch und sozial determiniert schildern. Unser ganzes überkommenes Weltbild löst sich zusehends auf. Und ausgerechnet jetzt kommt der Jurist mit einem staatlichen Gesetz, und damit sind wir in einer heiklen Situation. Nachdem wir religiöse und naturrechtliche Gesetze nicht mehr anerkennen, sind wir bei einer Art «Vernunftgesetz» angelangt. Dieses moderne Gesetz ist vor allem durch das demokratische Verfahren legitimiert, durch Zustimmung zu «Fairness»; das ist aber keine sehr starke Legitimation.

«Es ist nicht möglich, das Leben unter Aktendeckel zu pressen, ohne es abzutöten.»


Das alte Testament hatte einen Dekalog, also zehn Gebote. Christus hat das Gesetz nicht aufgehoben, aber er hat es erfüllt durch die goldene Regel: Man soll seinen Nächsten lieben wie sich selbst – da geht alles auf, das ist ein Grundverständnis. Hans Küng hat auch versucht, mit dem Weltethos grundlegende Regeln für den Schutz des Lebens, der Schwachen, der Partnerschaft, der Wahrhaftigkeit und Gewaltlosigkeit religionsübergreifend aufzustellen. Man kann immer versuchen, auf Grundprinzipien zurückzukommen. Der postmoderne Staat jedoch hat unendlich viele Gesetze, und da ist der Unrechtsgehalt meist nicht mehr fassbar. Hier liegt die Schwierigkeit: Der Richter ist in einer fast ausweglosen Situation. Auf der einen Seite wird er uns hingestellt als derjenige, der das Gesetz im Einzelfall anwendet und es vollstreckbar macht. Alles scheint durch das Gesetz, die juristische Logik und von Interpretationsregeln vorbestimmt. Diese Sicht ist irreführend. Dem Gesetz kann die konkrete Entscheidung im Einzelfall nicht abgelesen werden – da tun sich Abgründe auf. Hier muss ich meine juristische Ausbildung desavouieren. Es ist nicht möglich, das Leben unter Aktendeckel zu pressen, ohne es abzutöten.Anderseits überlässt das Gesetz dem Richter einen unfassbar grossen Ermessensspielraum, nicht nur im Strafmass.

 

«Der Zeitgeist, der Mainstream ist so stark, dass er das gerichtliche Urteil unter der Verhüllung der juristischen Begründung unmerklich unterwandert.»

Das moderne Recht ist fast zu subtil, delikat, verschlüsselt und zu reich an beweglicher Oberfläche, um seine konkrete Umsetzung im Urteil vorhersehbar oder nachvollziehbar zu machen. So wird der Richter dazu verführt, auf das Gesetz zu verweisen und sich für sein Urteil im Einzelfall zu entschuldigen. Aber das Gesetz und das Instrumentarium der Auslegung lässt auf der Ebene des Urteils im Einzelfall sehr viel zu. Der Zeitgeist, derist so stark, dass er das gerichtliche Urteil unter der Verhüllung der juristischen Begründung unmerklich unterwandert. Der Beweggrund und die tieferen Motive eines Urteils sind in seiner mündlichen oder schriftlichen Begründung nicht mehr erkennbar.

«Ich glaube, in Luzern wäre Guido A. Zäch gar nicht erst angeklagt worden.»

 

«Justice - Justiz - Giustizia»: ...Sie sprechen im Fall Zäch von einem Prozess der Abrechnung...


Genau, ich sehe da schon eine Abrechnung. Strikt lässt sich das nicht nachweisen, weil die Motivation juristisch kaschiert wird. Aber ich habe das in meinem neusten Buch versucht zu analysieren. Ich habe in den Basler Urteilen Auffälligkeiten und Ungereimtheiten festgestellt. Die erste Instanz verurteilte entsprechend der medialen Vorverurteilung Guido A. Zächs Hotel-Investitionen. Bei einem Deliktsbetrag von rund Fr. 30 Mio. wurde auf ungetreue Geschäftsbesorgung erkannt, in den Nebenpunkten freigesprochen und eine unbedingte Freiheitsstrafe verhängt. Die zweite Instanz hat dann gerade das Umgekehrte gemacht, indem sie Zäch in der Hotelgeschichte freisprach, jedoch die Nebenpunkte als Veruntreuung mit einem Deliktsbetrag von rund Fr. 1,3 Mio. einstufte und eine bedingte Strafe aussprach. Es gibt in den Begründungen der beiden Urteile unglaublich viele Umschichtungen und Widersprüche. Eine Verurteilung in der zweiten Instanz war nur möglich, weil die Entlastungszeugen, Organe des Gönnervereins, als unglaubwürdig eingestuft wurden. Das und Anderes erweckt bei mir den Eindruck, dass es nicht die Stringenz der juristischen Argumente war, die zur Verurteilung von Zäch geführt hat. Ich glaube, in Luzern wäre Guido A. Zäch gar nicht erst angeklagt worden.

«Wir sollten uns von der Vorstellung befreien, dass alles Unrecht staatlich abgeurteilt werden muss – was ja ohnehin unmöglich ist. Ich wünschte mir, dass es in der Schweiz einen Weg gäbe, eine derartige Affäre ausserhalb eines Strafprozesses abzuhandeln und zu lösen.»


In den Unterlagen zum Vermittlungsversuch von Pierre Arnold, dem ehemaligen Monsieur Migros, habe ich gesehen, dass durchaus die Möglichkeit einer aussergerichtlichen Regelung bestanden hätte. Ihm hat die Staatsanwaltschaft die formaljuristische Antwort gegeben, es handle sich um ein Offizialdelikt. Andererseits wissen wir alle, dass laufend selbst gravierende Wirtschaftsfälle firmenintern erledigt werden (vgl. Jean Francois Tanda / Peter Johannes Meier, Wirtschaftsdelikte: Nur selten landen sie bei der Justiz, in: «Justice - Justiz - Giustizia» 2007/4). Das finde ich nicht bedenklich und es stört mich persönlich nicht, dass diese Fälle der Justiz entgehen. Wir sollten uns von der Vorstellung befreien, dass alles Unrecht staatlich abgeurteilt werden muss – was ja ohnehin unmöglich ist. Ich wünschte mir, dass es in der Schweiz einen Weg gäbe, eine derartige Affäre ausserhalb eines Strafprozesses abzuhandeln und zu lösen.

Es geht entgegen der Argumentation von vielen, die Herrn Zäch verurteilt sehen wollten, ja nicht darum, jemandem alles zu erlauben, weil er Gutes getan hat. Es ist ja nicht so, dass er einen Bonus oder gar einen Freibrief für die Begehung irgendeines Delikts hätte. Seine Verurteilung steht durchaus im denkbar engsten Konnex mit seiner Tätigkeit. Er hat sich zwar im Verein seinen Lohn vom Vorstand, den er dominierte, zuschreiben lassen. Aber dabei hatte er sich auf die zuständigen Organe und Kontrollorgane verlassen, die während 20 Jahren seine Bezüge abgesegnet haben. Er hat ihnen keine Informationen vorenthalten. Es wurde akzeptiert, dass die Transaktionen über den Verein (und nicht über die Stiftung) abgewickelt worden sind. Zivilrechtlich war daher gegen Zächs Verhalten nichts einzuwenden. Erst nachträglich hat der Strafrichter erklärt, dass Verein und Stiftung ein und derselbe Topf seien. Der Strafrichter kümmert sich nicht um zivilrechtliche Gültigkeit. Er kann sich darüber hinwegsetzen. Aber dadurch gibt es im Recht Widersprüche, die letztlich in unserer Seele liegen. Wir haben juristische Personen und zivilrechtliche Institute und glauben daran, aber von einem gewissen Moment an gilt dies plötzlich nicht mehr, ohne dass wir genau sagen können, wann dies der Fall sein soll. Angesichts des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebots ist das fragwürdig. Für den Einzelnen kann das ein Drama sein und Guido A. Zäch nagt wahrscheinlich schwer an diesem Urteil.

Persönlich hätte ich Zäch auch lieber als den uneigennützig handelnden Wohltäter gesehen, als den man ihn von den Medien her kannte. Ich glaube, der Mensch Guido A. Zäch ist seiner medialen Verklärung zum Opfer gefallen. Wäre er uns nicht zuerst als der wunderbare Wohltäter erschienen, so wäre er uns am Ende auch nicht als der üble Täter vorgekommen. Auch die Richter waren in dieser dialektischen Falle gefangen. Sie sahen dies genau so und konnten ihn nicht völlig freisprechen, weil das niemand verstanden hätte. Richter sind immer wieder in einem Dilemma und haben sich widersprechende Aufgaben zu erfüllen. Dieser Fall wurde über zwei Instanzen so flexibel und konträr juristisch diskutiert und entschieden, dass ein Freispruch möglich gewesen wäre. Dass das nicht eingetreten ist, ist für mich schon ein starkes Indiz, das der Prozess und das Urteil eine Abrechnung für Zächs Vorgeschichte in Basel war. Ich habe versucht, dies in meinem letzten Buch nachzuvollziehen.

«Wenn wir seine Bezüge in Beziehung setzen zu den legalen Bezügen der Manager der Chemie oder der Banken, stellt sich die Frage, ob Guido A. Zäch wirklich ein strafrechtlicher Vorwurf gemacht werden kann.»


Durch meine Justizkritik habe ich auch versucht, Zächs Wert darzustellen und an die Richter den Wunsch geäussert, dass sie in solchen Fällen nicht nur den Weg zu einem relativ milden Kompromissurteil suchen sollen. Ich weiss nicht, ob ich als Richter und Träger dieser Verantwortung anders entschieden hätte. Es ist ein menschliches Dilemma. Ich wünschte mir aber, dass ich als Richter diesen Menschen nicht verurteilt hätte. Er hat sehr viel Gutes getan. Dass er sich persönlich am Spendenaufkommen beteiligte, ist moralisch nicht gut. Wenn wir seine Bezüge in Beziehung setzen zu den legalen Bezügen der Manager der Chemie oder der Banken, stellt sich die Frage, ob Guido A. Zäch wirklich ein strafrechtlicher Vorwurf gemacht werden kann. In einem Fall wie in der Causa Guido A. Zäch sollte es möglich werden, ein Wahrheitsverfahren durchzuführen und ein Verantwortlichkeitsurteil zu fällen, in dem die Richter sein Verhalten missbilligten und z.B. bestimmte Empfehlungen an die Stiftungsaufsicht richteten, die geeignet wären, in Zukunft ähnliche Entwicklungen zu vermeiden. Wir sind jedoch meist gar nicht bereit die Konsequenzen zu ziehen, die sich aus solchen Straffällen ergeben.

«Justice - Justiz - Giustizia»: Sie sagen, dass in Basel das Appellationsgericht (Kantonsgericht 2. Instanz) weitgehend ein «Bestätigungsritual» sei. Wie ist das zu verstehen?


Das hat historische Wurzeln: Die Appellation war in Basel bis ins 18. Jahrhundert im Strafverfahren unbekannt und wurde anschliessend aus dem Zivilprozess übernommen. Die Appellation führt in Basel nicht zur vollständigen Wiederholung des Prozesses. Das Unmittelbarkeitsprinzip hat sich vor zweiter Instanz nie wirklich durchgesetzt. Als Anwalt habe ich Don-Quijote-Kämpfe ausgefochten, nur um einen Entlastungszeugen vor zweiter Instanz befragen zu können. Die Verhandlungen dauern meistens nur einen halben oder einen ganzen Tag, zwei Tage sind selten, im Fall Zäch waren es drei, und es war die längste Verhandlung seit Menschengedenken. Die Appellation ist zur Beschwerde verkommen. Als ausserordentlicher Mietgerichtspräsident (1980-2000) habe ich vom «Bestätigungsritual» profitiert, indem meine Urteile kaum je kassiert worden sind.

«Derartige Instituts- und Richtergarantien sind an und für sich keine echte Garantie für eine bessere Justiz.»


Eine andere, enttäuschende Erfahrung war die Einführung des Haftrichters. Ich habe mich in Basel dafür eingesetzt und war in der Sache mit Erfolg in Strassburg. Der Haftrichter wurde in Basel 1993 eingeführt. Es gibt seither etwas weniger Haftfälle, aber die jeweilige Dauer ist länger. Man erhoffte sich, dass eine unabhängige Instanz sorgfältiger prüft und dass die Haftdauer zurückgeht – dies ist aber nicht geschehen und das war für mich persönlich eine Enttäuschung. Derartige Instituts- und Richtergarantien sind an und für sich keine echte Garantie für eine bessere Justiz. Es braucht vielmehr den politischen und individuellen Willen als «juge des libertés» tätig zu werden. Die Haft ist etwas sehr Schlimmes, weil auch Unschuldige davon betroffen sind. Hier muss man also äusserst zurückhaltend sein. Ich habe realisiert, dass es immer auf die Bewusstseinslage der Richter ankommt. Das Problembewusstsein muss vorhanden sein; wir können nicht darauf hoffen, dass die Freiheit des Beschuldigten durch den Richter a priori besser geschützt wird als durch die Strafverfolger. Das stimmt so in der schweizerischen Wirklichkeit – jedenfalls konkret in Basel und Zürich – nicht.

«Justice - Justiz - Giustizia»: Sie sprechen von drei Vorurteilen: 1. Vor dem Strafrichter stehen ausschliesslich Kriminelle, nie anständige Menschen; 2. Jede Art von Kriminalität kann vor dem Strafrichter erscheinen; 3. Das Gericht sucht die Wahrheit. Warum sind das Vorurteile?


Es sind Annahmen oder Axiome, von denen wir ausgehen, solange wir von der Justiz nicht selbst betroffen sind.

Zum ersten Vorurteil: Wir gehen davon aus, dass wir als anständige Menschen nichts mit dem Strafgericht zu tun haben. Der Umstand, dass jemand vor dem Strafrichter steht, hat in unserer Gesellschaft schon zur Folge, dass er nicht mehr «dazu gehört». Jeder sagt sich: «Wenn der nichts angestellt hätte, wäre er auch nicht vor Strafgericht.» Dies hängt auch mit der medialen Wucht der öffentlich gemachten Voruntersuchung zusammen. Der Angeklagte wird gefesselt und in Handschellen vorgeführt. Die Unschuldsvermutung erscheint wie ein Hohn, weil sie schlicht zur Illusion verkommt.

Zum zweiten Vorurteil: Wir sehen zu wenig, dass das Recht Teil des Staates ist und die Justiz sich dadurch nie oder nur marginal gegen den Staat und dessen Organe wenden kann. Man kann das historisch oder politisch abwandeln, dann wird es hochinteressant: Auch das Nazisystem hatte ein Recht, ebenso die UdSSR; die DDR hatte sogar eine mustergültige Verfassung. Natürlich sehen wir unsere eigene Fragwürdigkeit nicht. Zum Beispiel unsere Mitverantwortung für die nachrichtenlosen Vermögen und das Holocaust-Raubgold: Es waren die Amerikaner, die uns gesagt haben, dass wir auch Helfershelfer der Nazis waren – wir haben das vorher nie in einem Geschichtsbuch gelesen. Kollektive Verantwortlichkeiten werden immer «von aussen» auferlegt, die Selbsterkenntnis hinkt nach.

 

«Mit der geographischen Distanz wächst immer auch die Bereitschaft zur Justizkritik.»

 

Kürzlich las ich von einem jungen Deutschen, der in der Türkei eine Frau sexuell missbraucht haben soll und jetzt dort in Haft sitzt und hofft, herauszukommen. Ganz Deutschland fieberte seiner Freilassung entgegen. Mit der geographischen Distanz wächst immer auch die Bereitschaft zur Justizkritik. Wir sehen i.d.R. erst dann, wie fragwürdig die Justiz sein kann, wenn wir über Staatsgrenzen hinausblicken können.

Zum dritten Vorurteil erwähne ich den Fall der Zwillinge, die ich vor Jahrzehnten verteidigte. Gegen beide wurde ermittelt. Der eine wurde wegen Veruntreuung im Amt verurteilt. Das Verfahren gegen den Zwillingsbruder, der in der Medizinforschung tätig war und ganz analog gehandelt hatte, wurde bald wieder eingestellt. Ich begriff, dass es nicht opportun war, die Geldflüsse in diesem sensiblen Forschungsbereich unter die Lupe zu nehmen – aber sein Zwillingsbruder, mein Studienfreund, wurde geopfert. Der Staatsanwalt warf im Gerichtssaal in der Verhandlungspause eine Münze, um festzulegen, ob er auf eine unbedingte Strafe plädieren sollte. Das war auch ein Schlüsselerlebnis für mich.

 

«Ich glaube, ein Richter der einsieht, dass er etwas Unmögliches zu vollbringen hat, wird achtsam und zurückhaltend.»

 

«Justice - Justiz - Giustizia»: Es gibt offensichtlich Reformbedarf bei der Justiz. Was müsste geändert werden?


Ich hätte zahlreiche praktische Vorschläge zur Hand, aber mein Denken geht in erster Linie dahin, dass es eine Frage der Bewusstseinsänderung ist. Ich glaube, ein Richter der einsieht, dass er etwas Unmögliches zu vollbringen hat, wird achtsam und zurückhaltend. Er hat die Quadratur des Kreises zu vollbringen, also eine unerfüllbare Aufgabe zu lösen. Er kann auch zynisch werden oder es sich in der Berufsroutine wohl sein lassen.

 

«Wir haben nie die Möglichkeit, alles zu wissen, was wir wissen sollten, um ein derartig folgenschweres Urteil zu fällen.»


Das Problembewusstsein ist wichtig. Der Richter kann erkennen, dass er über einen Mitmenschen urteilt, obwohl er immer zu wenig weiss, um ein endgültiges Urteil über ihn fällen zu können. Das ist die tragische Grundsituation, in der wir uns als Richter befinden. Wir haben nie die Möglichkeit, alles zu wissen, was wir wissen sollten, um ein derartig folgenschweres Urteil zu fällen. Ich glaube und hoffe, dass aus dieser Einsicht eine Vorsicht und eine Achtsamkeit entspringen wird, die dazu befähigt, nicht in Zynismus zu verfallen, sich aber auch nicht als der Weisse Ritter zu erleben, der das Böse massgeblich bekämpfen könnte. Stattdessen sollte der Richter in Demut die Verfahrensgarantien ernst nehmen im Wissen, dass ihm die «materielle Wahrheit» verschlossen bleibt. Er kann sich aber den Parteien gegenüber fair verhalten und versuchen, den Menschen zu verstehen und ihn wenn immer möglich aufzurichten anstatt ihn bloss zu richten oder ihn gar in irgendeiner Form «hinzurichten». Das ist das Wesentliche.

Natürlich kann der Politiker sich fragen, ob zur Wahrnehmung dieser Aufgabe eher Berufsrichter oder Laienrichter, eher Teilzeitrichter oder Geschworenengerichte eingesetzt werden sollen. Jede Art hat ihre Vor- und Nachteile. Der Berufsrichter hat vielleicht die Schwäche, dass er zur Routine und zum Zynismus neigen könnte; er hat demgegenüber aber die Stärke, dass er grosse Erfahrung hat und die Situation nicht so wie der Geschworene nur ein einziges oder wenige Male erlebt. Er kann besser vergleichen und man kann hoffen, dass er durch eine umfassende Bildung dieses Problembewusstsein erlangt hat.

Obwohl ein juristisches Grundwissen sicherlich zum Rüstzeug des Richters gehört, lege ich das Hauptaugenmerk weniger darauf als auf eine umfassende Bildung, die auch z.B. die hochinteressante Forschung in der Wahrnehmungs- und Erinnerungsfähigkeit berücksichtigt. Wir wissen heute, dass sich unser Gedächtnis ständig verändert: Unsere Eindrücke und Erinnerungen wandeln sich ständig mit jeder Rückholung des Erinnerten. Auch die Aussagepsychologie ist bedeutsam. Gerade für Zeugeneinvernahmen ist solches Wissen elementar und es ist wichtig zu sehen, dass unser Erkenntnisverfahren vor Gericht sehr mangelhaft ist. In der Justiz müssen wir mit Zeugen arbeiten und doch wissen wir, es wird selten so viel Unwahres gesagt wie vor Gericht. Der Zeuge spricht immer aus einer bestimmten Erlebnisperspektive heraus. Es ist daher problematisch, aufgrund solcher Aussagen und von «Plausibilitäten» zu urteilen. Interessant ist übrigens die Etymologie des Wortes «plausibel», das ursprünglich vom Wort «Applaus», also von der Zustimmung stammt. Für uns ist also etwas dann plausibel, wenn uns Zustimmung geklatscht wird. Solche Zusammenhänge sollten uns hellhörig machen und daran erinnern, dass wir im gerichtlichen Erkenntnisverfahren auf dünnem Eis gehen. Ein Verhör vor Gericht ist ja kein freies Gespräch: Es ist ein Gefälle und es sind Machtstrukturen und Interessensphären vorhanden, die unüberwindbare Schranken bilden. Die Menschen vor und hinter den Schranken bleiben sich fremd.
 

«Die Justiz kann nicht so viel leisten, wie die Gesellschaft ihr zumutet.»

Es kommt oft vor, dass die Angeklagten die Situation, in der sie sich vor Gericht befinden, gar nicht richtig einschätzen können. «Der ganze Prozess» wird fragwürdig und deshalb ist es sehr schwer, in diesem Bereich wohltuend tätig zu sein. Wir dürfen froh sein, wenn Menschen richten, die ein Problembewusstsein dafür entwickelt haben. Das scheint mir das Wichtigste zu sein. Wenn ein Urteil aus einer selbstgerechten Haltung oder der Freude des Richters an seiner Machtausübung gesprochen wird, dann kommt etwas Zwanghaftes und Ungerechtes heraus. Richter sind in einer schwierigen Situation. Die Justiz kann nicht so viel leisten, wie die Gesellschaft ihr zumutet.


Herr Zihlmann, besten Dank für das Gespräch.